Schweizer Geschichte

Der Schriftsteller Lukas Bärfuss befragt den Historiker Jakob Tanner unter dem Titel „Weisse Flecken“ – also Leerstellen auf einer Landkarte, nicht entdecktes Land, Unbekanntes – zur Schweizer Geschichte. Tanner verteidigt die von Roger Sablonier, ebenfalls einem Geschichtsprofessor der gleichen Universität Zürich, heftig angegriffene neue Dauerausstellung im Landesmuseum. Aber er lobt Sabloniers Buch „Gründungszeit ohne Eidgenossen“. Eine deutsche Zuhörerin meldet, dass keiner ihrer Schweizer Bekannten auch nur die geringste Ahnung von Schweizer Geschichte hätte.
Und da überlegte ich, was ich als Grossvater denn meinen Enkeln aus der Schweizer Geschichte erzählen soll. Und wollte das den Professor Tanner fragen, aber bis ich mir die Frage zurecht gelegt hatte, war die Veranstaltung vorbei. Applaus. Applaus.

Was für Geschichten werde ich nun versuchen, meinen Enkelkindern zu erzählen – vorausgesetzt, sie hören mir überhaupt zu?
Ich glaube, ich beginne in ein paar Jahren mit dem Bahndamm hinter unserer Siedlung. Auf dem Spielplatz sieht man: das ist ein Damm. Und man kann sich vorstellen, dass da einst eine Dampflokomotive vorbei dampfte. Aus dem Küchenfenster sieht man den alten Bahnhof Dürnten und von dort aus, weiter Hang aufwärts, den kleinen Viadukt, der noch immer in der Landschaft steht.
Wie wir dann mit der Dampfbahn von Hinwil nach Bauma fahren, vielleicht in Neuthal aussteigen und auf die Fabrikgebäude hinunter sehen, in denen heute ein Museum sich befindet, erzähle ich von Guyer Zeller, vom Bahnfieber seiner Zeit und wie es kam, dass er eine Bahn aus dem Tösstal an den Zürichsee baute. Da muss ich auch von der Heimarbeit in den niedrigen Flarzhäusern berichten, vom Transport der Textilballen zu Fuss zunächst auf die Schiffe am See. Und dann von der Textilindustrie, vom Ustertag, von der Textilmaschinenindustrie … Und nochmals von Guyer Zeller, der für die Arbeiter Kosthäuser und Wanderwege bauen liess. Irgendwann fahren wir vielleicht auch einmal auf die Jungfrau. Wer hat diese Bahn bauen lassen?

Einverstanden: Mit der Gründung der Eidgenossenschaft hat das nichts zu tun. Aber „Geschichte“ ist es! Wenn es denn die uralte Zeit sein muss, gehen wir in die Kirche Rüti und sehen uns die Grabplatten der in der Schlacht von Näfels 1388 gefallenen Ritter an. Das waren Toggenburger, Leute aus dem oberen Zürichseegebiet, die da von den Glarnern besiegt wurden. Wir hier feiern quasi unsere Feinde von damals!

Das Buch von Sablonier habe ich dann gelesen und darin gefunden: „Nicht umsonst waren die mythischen Vorfahren zu allen Zeiten Gegenstand einer fruchtbaren historischen Imagination … Man denke an den Denkmalrecken Tell und an die kluge Stauffacherin, Personen, die in allen Einzelheiten, …, schlicht erfunden sind.“
Auch die Geschichten von Tell und der Stauffacherin werde ich erzählen, denn die erfundenen Geschichten sind oft die schönsten! Sehen Sie sich dieses Zitat von Mark Twain an. Es flimmerte im Schweizer Pavillon von Peter Zumthor als Projektion an einer Holzbeige: „And the first of them all – the very first, earliest bannerbearer of human freedom in this world – was not a man, but a woman – Stauffacher’s wife.“

Literatur:
Roger Sablonier. Gründungszeit ohne Eidgenossen. Verlag hier+jetzt. 2008
Klangkörperbuch. Lexikon zum Schweizer Pavillon an der Expo 2000 in Hannover. Birkhäuser. Basel
Link:
www.dvzo.ch

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