Wieder einmal ein bisschen Morgenstern …

… weil ich Christian Morgenstern heiss liebe. Nebst seinen Galgenliedern, unter denen es viele hat, die Jahrzehnte zum voraus Hugo Balls Dada vorweggenommen haben, hat er ja sehr ernsthafte Gedichte geschrieben und wichtige Theaterstücke, unter anderem von Ibsen, übersetzt.
Ich fahre über den Damm bei Rapperswil, Möwen fliegen vor mir hinüber zum Obersee, und ich rezitiere Morgensterns Möwenlied, im Stau stehend:

Die Möwen sehen alle aus,
als ob sie Emma hiessen.
Sie tragen einen weissen Flaus
und sind mit Schrot zu schiessen.
Ich schiesse keine Möwe tot,
ich lass sie lieber leben –
und füttre sie mit Roggenbrot
und rötlichen Zibeben.
O Mensch, du wirst nie nebenbei
der Möwe Flug erreichen.
Wofern du Emma heissest, sei
zufrieden, ihr zu gleichen.

Nicht aller Morgenstern kommt so mild-freundlich daher, vor allem nicht, wenn es Mitternacht schlägt:

Der Zwölf-Elf
Der Zwölf-Elf hebt die linke Hand:
Da schlägt es Mitternacht im Land.
Es lauscht der Teich mit offnem Mund.
Ganz leise heult der Schluchtenhund.
Die Dommel reckt sich auf im Rohr.
Der Moosfrosch lugt aus seinem Moor.
Der Schneck horcht auf in seinem Haus;
desgleichen die Kartoffelmaus.
Das Irrlicht selbst macht Halt und Rast
auf einem windgebrochnen Ast.
Sophie, die Maid, hat ein Gesicht:
Das Mondschaf geht zum Hochgericht.
Die Galgenbrüder wehn im Wind.
Im fernen Dorfe schreit ein Kind.
Zwei Maulwürf küssen sich zur Stund
als Neuvermählte auf den Mund.
Hingegen tief im finstern Wald
ein Nachtmahr seine Fäuste ballt:
Dieweil ein später Wanderstrumpf
sich nicht verlief in Teich und Sumpf.
Der Rabe Ralf ruft schaurig: „Kra!
Das End ist da! Das End ist da!“
Der Zwölf-Elf senkt die linke Hand:
Und wieder schläft das ganze Land.

Zitiert aus:
Christian Morgenstern.
Alle Galgenlieder.
Insel-Verlag. Wiesbaden 1947

Heute auch als Reclam Taschenbuch erhältlich.

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