Über Bildung – aus aktuellen Zeitungen und neuen Büchern

Konrad Paul Liessmann von der Universität Wien kritisiert in der NZZ vom 15. September 2014 die Kompetenzorientierung des Lehrplans 21 wie folgt:
Zukünftige Bildungsforscher werden in der Umstellung auf die Kompetenzorientierung vielleicht den didaktischen Sündenfall unserer Epoche sehen, die Praxis der Unbildung schlechthin.

Auch Peter Sloterdijk schreibt in seinem sehr umstrittenen Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ [2014] von „der versunkenen Ära der Allgemeinbildung“ – damals, als es das Abendland noch gab, konnten die Leute noch lesen!

Peter Bichsel übrigens schreibt in seinen Kolumnen, die oft unterschätzt werden, immer wieder gegen die sture Ausrichtung auf wirtschaftlichen Erfolg und die Vernachlässigung von weit gefasster Bildung an. Beispielsweise in der Kolumne „Zeit zu lesen“ [2002]: „… die Pisastudie, die feststellt, dass es schlecht steht um die Lesefähigkeit der Jungen. Und selbstverständlich kann das nur die Schule gewesen sein, die versagt hat. Doch ich fürchte, die Schule hat nur insofern damit zu tun, dass sie eben ein Teil der Welt ist – jener Welt, die längst zu schnell geworden ist für das Lesen. Ich fürchte, wieder einmal mehr wird hier etwas auf die Schule geschoben, was nicht die Schule angeht, sondern uns alle – und eine Pisastudie unter Erwachsenen hätte wohl noch viel erschreckendere Ergebnisse.
Das Verhältnis der Gesellschaft zur Schule ist verlogen. Eine Welt, die nicht mehr liest, möchte lesende Schüler. Eine Welt der Gewaltigen und in der Gewalt Tätigen möchte eine Schule, die zur Gewaltfreiheit erzieht. Die erfolgreichen Einzelkämpfer möchten eine Schule, die das Sozialverständnis fördert. Aber in Wirklichkeit möchten wir doch nur eine Schule für Erfolgreiche, für eine erfolgreiche Wirtschaft zum Beispiel. Und diese Schule haben wir doch – und diese Wirtschaft auch. Und nicht die Schule hat die Welt gemacht, sondern wir.“

Frank A. Meyer nimmt in der Schweizer Illustrierten deutlich Stellung gegen das kurzsichtige „Vorbereiten auf Wirtschaft und Staat“: „Ich meine, dass der universitäre Weg durch zunehmende Verschulung nur noch eine Schmalspur-Ausbildung bietet: Intellektuell kurzatmige Knaben und Mädchen werden als «Bachelor» oder «Master» auf Unternehmen losgelassen. Lästigstes Beispiel dafür sind die Rollkoffer-Kommandos unzähliger Beraterfirmen, die für kurze Zeit die Chefetagen von Firmen entern, nach ein paar Monaten wieder verschwinden und nichts als nutzlose Powerpoint-Präsentationen hinterlassen.“ [Schweizer Illustrierte vom 10. September 2014]

Die Arena vom 12. September 2014 diskutierte die Frage, wie viele Sprachen in der Primarschule unterrichtet werden sollen. Und falls es nur eine wäre, welche denn: Englisch oder Französisch?
[Ist das Konzept aus den Siebziger Jahren, wie wir Schweizer mit einander kommunizieren wollen, wirklich zu elitär? Jeder spreche in seiner Muttersprache, verstehe aber den Compatriote (aus dem Nachbarkanton).]

Wenn wir vier Freunde zusammen sitzen, alles ehemalige Lehrer, Bildungsfachleute also, ist es nicht verwunderlich, dass wir solche Debatten recht leidenschaftlich weiter führen. Ich sage allerdings zunächst etwas mutlos, als alter Mann mische ich mich da nicht mehr ein. Mir wird aber heftig widersprochen: Lasst uns weiter streiten für ein Humanitätsideal, das, wie bei Antoine de Saint-Exupéry, nicht die Masse, sondern den konkreten Menschen in seiner existentiellen Situation ins Zentrum rückt. Setzen wir uns dafür ein, dass Michael Hampe nicht recht behält. Schreibt er doch: Es hat sich „trotz aller Einsichten der Pädagogik in den Wert einer Schulung, die sich den einzelnen zuwendet und sie möglichst selbst zu Erkenntnissen kommen lässt, für das Leben und das Glück einzelner Menschen in den Schulen wenig geändert … Die auf die Fähigkeit zur Partizipation an der Demokratie abzielende Reformpädagogik war lediglich ein Intermezzo in der Entwicklung von der sozialdarwinistischen Erziehung zum Training für den globalen Bildungs- und Arbeitsmarkt, auf dem sich ‚die Deutschen’ für die Auseinandersetzung mit ‚den Chinesen’ ‚fit’ machen müssen und die OECD mit den PISA-Tests regelmässig ihre Fitness prüft.“ [Michael Hampe. Die Lehren der Philosophie 2014]

Vielleicht ist es ja so, dass sich nicht die Reformpädagogik sondern die Kompetenzorientierung als Intermezzo herausstellt, argumentierte mein Freund.

Ein Gedanke zu „Über Bildung – aus aktuellen Zeitungen und neuen Büchern“

  1. Nun ja, um 1970 protestierte die Studentenschaft der UNI ZH verschiedentlich gegen die „Verschulung“ der Studien, mit Erfolg, zumindest bis um die Jahrtausendwende, bis zur Umsetzung von Bologna. Ich bin dafür, dass man Reformen produktiv angeht. Unser demokratisches System lässt Feinjustierungen zu. Da ist immer wieder anzusetzen. Bologna und Lehrplan 21 sind Chancen, vermehrt auf Ziele („Wunschobjekte“) hin zuarbeiteten.

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