George Gershwin in der Tonhalle Zürich

Ein nebliger Sonntag Vormittag Ende Oktober. Wir fahren in die Tonhalle zur Matinee „Literatur und Musik“. Die überaus farbigen Bäume und Büsche links und rechts der Autobahn wirken dumpf, kleinlaut, verzagt, irgendwie lustlos.

Im randvollen kleinen Saal sind unüblicherweise die Vorhänge gezogen. Pünktlich um Viertel nach Elf wird es ganz dunkel. Dann projizieren Scheinwerfer strahlend blaues Licht an die Wand hinter dem Flügel, und aus den Lautsprechern ertönt die Stimme von Martin Luther King: „I have a Dream!“ – und dann greift Sebastian Knauer in die Tasten und Martina Gedeck liest aus den Erinnerungen von Frances Gershwin über ihren Bruder.

Was hören wir nicht alles an diesem Sonntagmorgen, grossartige Musik: Songs aus „Lady, Be Good“, aus „Porgy and Bess“, Evergreens wie „The Man I Love“ oder „Summertime“ und kurz vor ein Uhr „Rhapsody in Blue“, virtuos, energisch, kraftvoll, gefühlvoll, technisch brillant interpretiert von Sebastian Knauer. Martina Gedeck brilliert nicht weniger mit ihrer einfühlsamen Art, Auszüge aus der von Frances nacherzählten Lebensgeschichte Gershwins, aus authentischen Zeugnissen von Freunden und Weggefährten vorzutragen.

Weil heute alles mit Martin Luther King begann, reizt es mich, einen anderen Musiker ins Spiel zu bringen: Harry Belafonte. Ich weiss, da mag es ein Gefälle geben von Gershwin zu Belafonte. Aber: Belafonte war an der Vorbereitung des Marsches auf Washington beteiligt, ihm gelang es, Marlon Brando und Charlton Heston dazu zu bringen, den Marsch anzuführen. Belafonte erzählt: Mahalia Jackson rief Martin Luther King während der Rede zu: „Erzähl ihnen von dem Traum, Martin.“ „Und als er das tat“, schreibt Belafonte, „hörte ich etwas Neues: einen Ton der Zuversicht, die ihm diese gewaltige Menge eingegeben hatte. Der Wandel würde kommen. Die Rassentrennung würde fallen.“ „Und so,“ urteilt Belafonte, „wurde diese Rede auf wundersame und grossartige Weise zur Synthese jeder Rede, die er je gehalten hatte, und die beste von allen.“ Aber aus der Welt geschafft ist Rassismus bei weitem noch nicht, ist der Wandel auch in Amerika noch nicht gänzlich vollzogen.

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Was mich zunächst reichlich kitschig dünkte – der verdunkelte kleine Saal mit den farbig bestrahlten Wänden – erwies sich als sehr stimmig, sehr romantisch, der Musik Gershwins durchaus angemessen, je länger ich ihr und der schönen Stimme Martina Gedecks zuhörte.

Nach der Matinee traten wir ins Freie, nun schien die Sonne , der See glitzerte, viel Volk promenierte am Quai Henri Guisan – und jetzt leuchteten Bäume und Sträucher herrlich im immer helleren Sonnenschein. So wurde diese sonntägliche Matinee auf wundersame und grossartige Weise zu einer der schönsten.

 

Harry Belafonte. My Song. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2012

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