Grappa oder Limoncello – Bush oder Al Gore – Auf- oder Abrunden

Bei unserem letzten Freundestreffen kam die Rede auf Pukelsheim, weil wir darüber debattierten, wie in Proporzwahlen eigentlich die Anzahl Sitze bestimmt würden. Ich beschloss zu Hause, in George G. Szpiros «Die verflixte Mathematik der Demokratie» nachzuschlagen. Offenbar haben sich Menschen schon immer über die Frage Gedanken gemacht und Theorien entworfen, wie gerechte Wahlverfahren und richtige Entscheide bei Abstimmungen herbeizuführen wären. Schon Llull (13. Jahrhundert), Cusanus (15. Jh.), Borda und Condorcet (18. Jh.) beharrten darauf, dass bei mehr als zwei Kandidaten oder sachlichen Optionen Mehrheitswahlen nicht immer die besten Kandidaten oder die besten Alternativen liefern. Und dass bei drei und mehr Kandidaten Zirkel drohen.
Szpiro erläutert dies an einem hübschen Beispiel: Peter, Paul und Maria müssen entscheiden, was sie als Abenddrink kaufen. Peter bevorzugt Amaretto vor Grappa und Grappa vor Limoncello. Paul zieht Grappa Limoncello vor und Limoncello Amaretto. Maria schliesslich hat Limoncello lieber als Amaretto und Amaretto lieber als Grappa. Sie stimmen ab.
Eine Mehrheit zieht Amaretto dem Grappa vor (Peter und Maria) und eine Mehrheit hätte Grappa lieber als Limoncello (Peter und Paul). Also könnte man eine Kiste Amaretto kaufen. Doch Paul und Maria weisen darauf hin, dass sie beide Limoncello dem Amaretto vorziehen würden. Hätten die drei eine dritte Abstimmung abgehalten zwischen Limoncello und Amaretto, so hätte eine Mehrheit (Paul und Maria) Limoncello gewählt. Wir kaufen Limoncello! Aber nein, rufen Peter und Paul, wir hätten lieber Grappa als Limoncello!! Man kann es drehen und wenden wie man will. Es gibt keine Lösung aus diesem Zirkel. 

Lull übrigens schlug ein interessantes Wahlverfahren für kirchliche Würdenträger vor: Die Kandidaten betreten hintereinander aufgereiht die Kirche. Kandidat A und Kandidat B treten gegeneinander an. Der Sieger tritt gegen C an. Wer hier siegt, kämpft gegen D usw. Am Schluss steht der Gewählte fest. Möchten Sie gerne als Erster, also als A, die Kirche betreten oder lieber als Letzter, etwa als K?

Im 15. Jahrhundert schlägt Cusanus ein Wahlverfahren vor, das er am Beispiel der Wahl des deutschen Kaisers erläutert, und das noch heute, zum Beispiel bei der Wahl des besten Eurovisionssongs, angewendet wird. Jeder Kandidat erhält von jedem Wähler eine Einstufung  (0 – 10 und dann 12 bei der Eurovision).
Solche Verfahren erlauben „strategisches Wählen“. Rolf Nader von der grünen Partei hatte nie eine Chance, amerikanischer Präsident zu werden. Wer grün wählen wollte, wählte deshalb vernünftigerweise nicht Nader, sondern Al Gore, der auch ein bisschen grün war. Im Jahr 2000 waren aber zu wenige Wähler vernünftig, Nader erhielt zu viele Stimmen, Al Gore zu wenige, und Bush gewann. So eine Schande!! Cusanus, der eigentlich Nikolaus Krebs hiess und aus Kues an der Mosel stammte, hatte im Laufe seines Lebens eine riesige Bibliothek zusammengetragen. Im Zweiten Weltkrieg schonten die Alliierten Kues und verzichteten wegen dieser Bibliothek auf die Bombardierung des Städtchens. Cusanus war es übrigens, der beweisen konnte, dass die sogenannte Konstantinische Schenkung an den römischen Papst Silvester im 4. Jahrhundert eine Fälschung aus dem 8. Jahrhundert war.

Es war schliesslich Kenneth Joseph Arrow (1921 – 2017), der streng mathematisch beweisen konnte, dass es unmöglich ist, eine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion ausfindig zu machen, sobald es mehr als zwei Wahlmöglichkeiten gibt. Ohne Ausnahme zwingt jeder Versuch, die Rangordnungen einer Gruppe von Menschen in eine kollektive Auswahl zu führen, einer Gruppe von Wählern eine ungeliebte Lösung auf. Diese Erkenntnis schlug wie ein Blitz ein. Seit Platon, Llull und Condorcet hatte man gehofft, irgendwann ein Verfahren zu entdecken, mit dem man die Rangordnungen der einzelnen Wähler zusammenführen könnte. Arrow machte diesen Hoffnungen ein Ende.

Anders ausgedrückt: Es gibt keine demokratische Verfassung mit einem stimmigen Verfahren kollektiver Entscheidungen; nur eine Diktatur kann ein paar wenige, harmlos klingende Bedingungen erfüllen. Szpiro: «Wir haben die Wahl zwischen fünf Arten von Pest oder der Cholera. Entweder akzeptieren wir Zirkel oder eine Diktatur oder aufgezwungene Rangfolgen oder eine von zwei Arten irrationalen Handelns oder wir werfen die Demokratie zur Tür hinaus. Wir können nicht alles haben.»

Da habe ich nun also eine Illusion weniger!

Nach Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie, Heisenbergs Unschärferelation und Gödels Unvollständigkeitssatz nun also auch noch Arrows Unmöglichkeitstheorem für die Sozialwahltheorie.

Und was ist nun mit Professor Friedrich Pukelsheim aus Augsburg? Nun, die Berechnung der einer Partei zustehenden Sitze in einem Parlament ist eben auch nie wirklich «richtig oder gerecht» möglich. Und Szpiro schildert ausführlich und humorvoll die diesbezüglichen Querelen im amerikanischen Kongress. Doch Pukelsheim hat einen Computeralgorithmus entwickelt, der dafür sorgt, dass sowohl die (Zürcher) Bezirke als auch die Parteien proportional vertreten sind und dass jede Stimme gezählt wird. Gerecht? Ja schon, obschon dabei die kleinen Parteien gegenüber den grossen halt doch etwas bevorzugt werden.

George G. Szpiro. Die verflixte Mathematik der Demokratie. Springer. Verlag NZZ. 2011

Ein Gedanke zu „Grappa oder Limoncello – Bush oder Al Gore – Auf- oder Abrunden“

  1. Und prompt geht das Gerangel auch bei uns wieder los. Denn die Bezirke
    Hinwil (also wir) und Andelfingen werden in den nächsten
    Kantonsratswahlen je einen Sitz verlieren zu Gunsten der Stadt. Dagegen werden nun Motionen, Interpellationen und Initiativen lanciert, der reinste
    Saubannerzug mit Mistgabeln!
    Man dürfe eben nur die Stimmberechtigten zählen und nicht die Wohnbevölkerung.

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