Tu ne dis jamais rien

Ja, ich weiss: du säisch nie nüt.
Cha passiere, was wott, du säisch nüt.
Dir mues me nöd säge: So schwig doch!
Aber wänn nie niemer nüt säit, wird au nie nüt besser.
Dir mues mer ehnder zurüefe: So red doch!
Red! Säg öppis!
Ja, ich weiss: du säisch nie nüt.
Tu ne dis jamais rien.

Das Spruchband hing in Rouen an einer Hausfassade. Ich habe keine Ahnung, an wen es sich richtet, ob es jemanden oder uns alle zum Reden auffordert, ob es ein Appell zum Anprangern von Missständen ist oder in einem ganz anderen Zusammenhang steht. Vielleicht ist es eine französische Version vom Schweigen der Lämmer? Mich jedenfalls, als ich die alte Fotographie wieder fand, stimmt die Aufforderung nachdenklich: Worüber schreibe ich in meinen Homepagetexten nicht, wozu sage ich nichts? Worüber schweige ich? 

Zu dieser Konstellation von Eugen Gomringer schreibt Peter von Matt: „Die Konstellation «schweigen» gehört zu seinen berühmtesten; keine Literaturgeschichte kommt um sie herum. Sie ist ein Klassiker wie «Der Besuch der alten Dame» oder «Stiller». Der Ruhm hat seinen guten Grund. Denn wir können vor diesem Text an uns selbst verfolgen, wie die Betrachtung vom Anschauen ins Meditieren hinübergleitet. Da ist zunächst ein Paradox, wie in vielen mystischen oder okkulten Texten. Wer schweigen sagt, der schweigt ja gerade nicht. Im Gegenteil, das Gedicht dröhnt förmlich von diesem Wort. Nur in der Mitte, in der Leere, kann das Gebilde, indem es nichts sagt, sagen, was es sagen möchte. Hier ist es totenstill. Auch das Weiss dieser Leere ist eine Spur weisser als das Weiss um das Gedicht herum. Unsere Augen verstärken den imaginären akustischen Prozess. Dieser leere Raum beginnt in der Betrachtung zu vibrieren. Die Öffnung eröffnet etwas. Lautlose Epiphanie. Es ist schwer, darüber zu reden.“ [Rede Peter von Matt zum 90. Geburtstag von Eugen Gomringer im Literaturhaus Zürich am 28. Januar 2015. ] Gomringers Ode an Zürich findet sich übrigens auf dieser Site unter „Vermischtes 2015“ unter dem Titel „Wieder einmal ein Gedicht“.

4 Gedanken zu „Tu ne dis jamais rien“

  1. Lieber Werner, jeder Mensch, unter anderem auch ich, hat Dinge, die er/sie nicht sagt. Sonst würde auch permanentes Sagen, ohne zu essen und zu schlafen das Problem nicht lösen.

  2. Ich treffe hier unvermittelt auf Christian Jung, in dem ich einen „alten“ Kollegen der Kanti Frauenfeld vermute. Das Netzt ist wie die Schweiz: letztlich sehr klein (und vielleicht auch etwas kleinlich; Stichwörter Selbstzensur (Dürrenmatt) bzw. Zensur (Heiko Mass) …

  3. Von Matt beherrscht auch die Stilfigur des Paradoxons bestens;: “ Dieser leere Raum beginnt in der Betrachtung zu vibrieren.“ !!!

  4. Richtig, Christian hat vor Jahren an der Kanti Frauenfeld unterrichtet.
    Den Hinweis auf Selbstzensur (Dürrenmatt) und Zensur (Heiko Mass) verstehe ich nicht.

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