Lettres à une princesse d’Allemagne

Wir sitzen wieder einmal in einer Beiz beim Mittagessen, vier Freunde am Stammtisch, die sich bereits fast ein Leben lang kennen, alle längst pensioniert. Einer zeigt eine Grusskarte seines Freundes Max mit der Eulerschen Identität:

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Sein Freund schreibt, sie vereine die Fundamentzahlen, die fünf wichtigsten Zahlen der Mathematik, sie sei ausserordentlich schön.

Leonhard Euler, Basler Mathematiker des achtzehnten Jahrhunderts, vor einigen Jahren präsent auf der Schweizer Zehnernote, schrieb jenen Bestseller der Aufklärungszeit: [ein Klick aufs Bildchen sollte helfen!]

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Wir sitzen am 20. Dezember 2016 zusammen. Gestern waren die Nachrichten voll von der Schiesserei in Zürich, vom Attentat in der Türkei auf einen russischen Diplomaten und vom Terrorakt auf den Weihnachtsmarkt in Berlin. So viele Tote, so viel Leid, so viel Böses in der Welt. Woher kommt das Böse? Weshalb erlaubt der liebe Gott überhaupt Böses? Auch Euler setzt sich in seinen Briefen an die Prinzessin Friederike Charlotte von Brandenburg-Schwedt, eine Nichte Friedrichs des Grossen, mit dieser Frage auseinander:

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Übrigens beantwortet Euler der vierzehnjährigen Prinzessin auch jene ewige Kinderfrage, weshalb denn der Himmel blau sei:

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Das achtzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert der Aufklärung – « Les lumières », comme disent les Français – hat uns noch jene anderen Briefe hinterlassen, auf die ich bereits einmal anlässlich eines Besuchs im Botanischen Garten Grüningen aufmerksam gemacht habe: « Lettres élémentaires sur la botanique » de Jean-Jacques Rousseau . [www.eschberg.ch / Vermischtes 2012 / 21. September. Botanik für artige Frauenzimmer]

Wer ausserordentlich genaue Auskunft über das Zeitalter der Aufklärung in Deutschland erhalten möchte, der lese von Steffen Martus „Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – Ein Epochenbild“ [Rohwolt Berlin. 2015. 1033 Seiten]. Diesen Hinweis verdanke ich unserer Stammtischrunde.

Einer aus unserem Kreis gibt auf die Frage nach dem Bösen in der Welt, danach, wie wir uns denn gegen die Unsicherheiten und die Angst wappnen können, und ob es überhaupt Sinn mache, hoffnungsvoll und zuversichtlich sich auf das neue Jahr zu freuen, eine ganz andere Antwort als Euler – keine theoretische! Er startet ein langjähriges Projekt. Kauft eine uralte Eibe, lässt sie demnächst fällen, lässt das Holz jahrelang lagern, lässt dann daraus Möbel herstellen, einen Tisch, vielleicht einen Schrank, wer weiss . – Dies alles wird frühestens in fünf oder sechs Jahren fertig sein! Hut ab und frohe Weihnacht, lieber Freund!

Die Königin und der Revolutionär

Fidel Castro ist gestorben.

Seine Revolution brachte ihn 1959 in Kuba an die Macht. Ich lese in der Zeitung, er habe mehr als 600 Mordversuche überstanden und mehr als 2500 Reden gehalten. Ich weiss, dass Hans Magnus Enzensberger seinerzeit wie viele Andere begeistert nach Kuba gereist und dann enttäuscht zurückgekehrt ist.

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Ich versuche, mich an die Fünfziger Jahre zu erinnern: Wie hat der Knabe Heller seinerzeit „Geschichte“ wahrgenommen? Da fällt mir zunächst ein, wie meine Mutter 1953 begeistert die Krönung von Elisabeth II mit verfolgt hat: die goldene Kutsche, die vielen Pferde, die Krönung in der Kirche. Elisabeth ist seit 1952 Königin und herrscht damit länger als Castro Kuba geführt hat.

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Die nächsten wichtigen Ereignisse, von denen ich weiss, dass ich sie seinerzeit registriert hatte, waren die Suezkrise, in welcher Eisenhower den Knaben bitter enttäuschte, weil er die „mutigen und heldenhaften“ Franzosen und Briten zurück pfiff, und der Ungarnaufstand, in welchem der tapfere Imre Nagy von den bösen Kommunisten entmachtet wurde. Unser Schimpfwort damals: Kadar! Das war 1956. Der Revolutionsführer Fidel Castro tritt erst in mein Gesichtsfeld, als er 1962 mit der Stationierung russischer Raketen auf Kuba einen Weltkrieg riskiert. Kennedy erleidet in der Schweinebucht eine blamable Niederlage, Chruschtschow haut mit seinem Schuh aufs Rednerpult in der UNO, und der Kalte Krieg prägt die Welt: Es piepst der erste Satellit aus dem All, ein russischer! Der Vater zeigt dem Sohn den schnellen Satellit, und im Landdienst prahlt der Bauer: „Nous, on fait cela avec un coup de poing!“ Das piepsende Kerlchen stachelt die Amerikaner an, die auf den Mond fliegen. Aber das gelingt erst 1969. (Um dieses Ereignis mit erleben zu können, kauften wir uns den ersten Fernsehapparat, natürlich in schwarz-weiss.) Ein Jahr vorher marschieren russische Truppen in Prag ein, und aus Frühling wird übergangslos harter Winter. Im Schachklub Rüti taucht ein tschechischer Flüchtling auf und möchte in die Schweizer Armee aufgenommen werden, um gegen die Kommunisten zu kämpfen. Der blutjunge Lehrer Heller in Rüti möchte mit den Schülern auf die Strasse um zu protestieren, wird aber glücklicherweise daran gehindert. Kuba ist weit weg, und ich werde erst wieder auf den alten Mann aufmerksam, als ich in den frühen achtziger Jahren mit Exilkubanern in Miami Kaffee trinke, den besten, den es damals in den USA gab!

In all den Jahren regierte also Castro auf Kuba und ist Elisabeth II wie auch heute noch konstitutionelle Monarchin des Commonwealth, Oberhaupt von 53 Staaten und der Staatskirche Englands. Beide sind im Jahr 1926 geboren.

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Der Königin setzt übrigens Netflix ein sehenswertes Denkmal in der Serie „Game of Crown“.

George Gershwin in der Tonhalle Zürich

Ein nebliger Sonntag Vormittag Ende Oktober. Wir fahren in die Tonhalle zur Matinee „Literatur und Musik“. Die überaus farbigen Bäume und Büsche links und rechts der Autobahn wirken dumpf, kleinlaut, verzagt, irgendwie lustlos.

Im randvollen kleinen Saal sind unüblicherweise die Vorhänge gezogen. Pünktlich um Viertel nach Elf wird es ganz dunkel. Dann projizieren Scheinwerfer strahlend blaues Licht an die Wand hinter dem Flügel, und aus den Lautsprechern ertönt die Stimme von Martin Luther King: „I have a Dream!“ – und dann greift Sebastian Knauer in die Tasten und Martina Gedeck liest aus den Erinnerungen von Frances Gershwin über ihren Bruder.

Was hören wir nicht alles an diesem Sonntagmorgen, grossartige Musik: Songs aus „Lady, Be Good“, aus „Porgy and Bess“, Evergreens wie „The Man I Love“ oder „Summertime“ und kurz vor ein Uhr „Rhapsody in Blue“, virtuos, energisch, kraftvoll, gefühlvoll, technisch brillant interpretiert von Sebastian Knauer. Martina Gedeck brilliert nicht weniger mit ihrer einfühlsamen Art, Auszüge aus der von Frances nacherzählten Lebensgeschichte Gershwins, aus authentischen Zeugnissen von Freunden und Weggefährten vorzutragen.

Weil heute alles mit Martin Luther King begann, reizt es mich, einen anderen Musiker ins Spiel zu bringen: Harry Belafonte. Ich weiss, da mag es ein Gefälle geben von Gershwin zu Belafonte. Aber: Belafonte war an der Vorbereitung des Marsches auf Washington beteiligt, ihm gelang es, Marlon Brando und Charlton Heston dazu zu bringen, den Marsch anzuführen. Belafonte erzählt: Mahalia Jackson rief Martin Luther King während der Rede zu: „Erzähl ihnen von dem Traum, Martin.“ „Und als er das tat“, schreibt Belafonte, „hörte ich etwas Neues: einen Ton der Zuversicht, die ihm diese gewaltige Menge eingegeben hatte. Der Wandel würde kommen. Die Rassentrennung würde fallen.“ „Und so,“ urteilt Belafonte, „wurde diese Rede auf wundersame und grossartige Weise zur Synthese jeder Rede, die er je gehalten hatte, und die beste von allen.“ Aber aus der Welt geschafft ist Rassismus bei weitem noch nicht, ist der Wandel auch in Amerika noch nicht gänzlich vollzogen.

king_belafonta          gershwin          frances

Was mich zunächst reichlich kitschig dünkte – der verdunkelte kleine Saal mit den farbig bestrahlten Wänden – erwies sich als sehr stimmig, sehr romantisch, der Musik Gershwins durchaus angemessen, je länger ich ihr und der schönen Stimme Martina Gedecks zuhörte.

Nach der Matinee traten wir ins Freie, nun schien die Sonne , der See glitzerte, viel Volk promenierte am Quai Henri Guisan – und jetzt leuchteten Bäume und Sträucher herrlich im immer helleren Sonnenschein. So wurde diese sonntägliche Matinee auf wundersame und grossartige Weise zu einer der schönsten.

 

Harry Belafonte. My Song. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2012

Siegfried und Pedro

Pedro Lenz las im Singsaal des Schulhauses Nauen in Dürnten. Wie wir zum Schulhaus spatzierten, kam der Schriftsteller uns entgegen. „Grüezi Herr Länz“, grüsste ich. Er vertrete sich noch ein wenig die Beine, bevor es losgehe. Hätte ich „Lenz“ sagen müssen, fragte ich mich, und nicht „Länz“? Dann stand er auf der Bühne, allein, vor einem Mikrofon, ein sehr grosser Mann, ein wahrer Hühne. Und las aus seinen Mundarttexten, auch aus seinem dannzumal noch nicht veröffentlichten neuen Roman „Di schöni Fanny“. Während ich genussvoll sein Berndeutsch in mich hinein und an mir vorbei rauschen liess, fragte ich mich, ob Pedro Lenz irgendwie mit Siegfried Lenz verwandt wäre – natürlich nicht biologisch, aber vielleicht literarisch, auch wenn der eine Hochdeutsch, der andere Berndeutsch schreibt.

Die achtzehnte von Siegfried Lenz Masurischen Geschichten beginnt so:

„Joseph Waldemar Gritzen, ein grosser, schweigsamer Holzfäller, wurde heimgesucht von der Liebe. Und zwar hatte er nicht bloss so ein mageres Pfeilchen im Rücken sitzen, sondern, gleichsam seiner Branche angemessen, eine ausgewachsene Rundaxt. Empfangen hatte er diese Axt in dem Augenblick, als er Katharina Knack, ein ausnehmend gesundes, rosiges Mädchen, beim Spülen der Wäsche zu Gesicht bekam. Sie hatte auf ihren ansehnlichen Knien am Flüsschen gelegen, den Körper gebeugt, ein paar Härchen im roten Gesicht, während ihre beträchtlichen Arme herrlich mit der Wäsche hantierten.“

Pedro Lenz beginnt seine Liebesgeschichte mit dem Titel Ouge wie folgt:

„Denn hani imne Hotel Zmorge gno,
irgendwo im Östriichische.

Si het so grossi Ouge gha,
sehr grossi, wunderschöni Ouge,
zersch hani nume di Ouge gseh,
Ouge, wo eim zwinge härezluege,
Ouge, wo eim mache z tröime,
grossi, dunkli, liebi, töifi Ouge.“

De het si mi fründlech gfrogt,
ob i Tee nähm oder Kafi.
Ha grad nid chönnen antworte
wöu i nume di Ouge aagluegt ha,
numen immer di Ouge gseh ha,
di unwahrschiinlichen Ouge.
Ha öppis gstaggelet und gseit,
es sig mer fasch chli gliich.“

Während in der Liebesgeschichte von Lenz die beiden Masuren sich glücklich finden, – denn Waldemar bietet Katharina eine Lakritze an – stielt sich der Erzähler bei Lenz heimlich aus dem Hotel und

„sithär
ha se nie meh gseh,
hani nie meh
söttigi Ouge gseh
wi denn dörte
i däm Hotel z Öschtriich
i däm chliine Spiissaau.“

Vom Büchertisch im Singsaal Nauen erstand ich mir „Der Gondoliere der Berge“ und stellte zu Hause zunächst ein wenig enttäuscht fest, dass es sich hierbei um hochdeutsche Texte handelt. Rasch aber sah ich, dass die beiden Lenz ihre Mitwelt ganz ähnlich wahrnehmen und zu Literatur verformen. In „So zärtlich war Suleyken“ leben Figuren wie der Holzfäller, leben Bauern, Fischer, kleine Handwerker und Besenbinder, keine berühmten Physiker oer Präsidenten. Bei Pedro Lenz sind es Stapelfahrer, Nachtportiers, Briefträger oder eben die Gondelführer in Luftseilbahnen.

Die beiden Herren Lenz, den leider verstorbenen Siegfried und den noch quicklebendigen Pedro empfehle ich sehr zur Lektüre!

 

Siegfried Lenz: So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten. Hoffmann und Campe 1955

Pedro Lenz: Der Gondoliere der Berge. Kolumnen aus NZZ Executive. Cosmos Verlag 2016
Pedro Lenz: Liebesgschichte. Cosmos Verlag 2012

Was es alles (fast) (und meist zum Glück) nicht mehr gibt

Eigentlich suchte ich in Morgensterns Galgenliedern sein hübsch-trauriges Liebeslied zwischen Herrn Igel und Frau Agel, blieb wie so oft in der Lektüre hängen und fand ein Gedicht, das ich nicht mehr im Gedächtnis hatte: Mägde am Sonnabend. Mägde, welche Teppiche klopften mit dem Teppichklopfer. Ja, gibt es das heute noch? Und was ist sonst aus unserer modernen Welt verschwunden, was meine Kindheit mehr oder weniger prägte? Natürlich:

Das Sonntagskleid für die wirklich langweiligen Sonntage. Spielplatz und Fussballplatz waren tabu, das Kleid durfte auf keinen Fall schmutzig werden: Es drohte der Sonntagsspaziergang!

Drei Löffel Lebertran am Abend [heute vielleicht noch in Pillenform mit Orangenaroma?]: zum k…

Das Welschlandjahr [oder kennen Sie ein Mädchen, das jetzt im Welschlandjahr ist?]

Kondukteure auf fest eingebautem Sitz im Züri Tram. Man musste hinten einsteigen, ein Billet (nicht ein Ticket!) erstehen oder ablochen lassen und dann hörte man regelmässig: „Nach vorne ufschlüsse!“

Das Telefonbuch [doch, doch, das gibt es noch, nur braucht es niemand mehr] für das schwarze Telefon an der Wand im Nachbarhaus

Die Blitzableiter [doch, doch; auch die gibt’s noch, man sieht sie nur nicht mehr]

Die Teppichklopfer [Samstag für Samstag wuchteten wir Kinder die schweren Läufer über die Teppichstangen und schlugen und schlugen den Staub in die Luft!]

Da gibt es wie gesagt dieses hübsche Gedicht von Christian Morgenstern (1871 – 1914), welches von unseren Enkelkindern kaum mehr verstanden würde, glaube ich:

Mägde am Sonnabend

Sie hängen sie an die Leiste
die Teppiche klein und gross,
sie hauen, sie hauen im Geiste
auf ihre Herrschaft los.

Mit einem wilden Behagen,
mit wahrer Berserkerwut,
für eine Woche voll Plagen,
kühlen sie sich den Mut.

Sie hauen mit splitternden Rohren
im infernalischen Takt.
Die vorderhäuslichen Ohren
nehmen davon nicht Akt.

Doch hinten jammern, zerrissen
im Tiefsten, von Hieb und Stoss,
die Läufer, die Perserkissen
und die dicken deutschen Plumeaus.

Die schlagkräftige Dame im folgenden Bild (ein Klick darauf vergrössert es) dürfte allerdings keine Magd aus der Zeit vor den beiden Weltkriegen, sondern eine für ein Foto herausgeputzte Hausfrau aus den Fünfziger Jahren sein.

Zum Teppichklopfer noch ein Zitat aus WikipediA:

Bis in die späten 1970er Jahre war der Teppichklopfer jedoch vor allem in Deutschland, aber auch in Italien und Österreich neben dem Rohrstock ein weit verbreitetes Hilfsmittel zur körperlichen Züchtigung von Kindern und Jugendlichen in der Familie. Weniger schmerzhaft als ein Rohrstock, galt er gleichwohl als sehr effektiv, vor allem auf dem entkleideten Gesäß; wurde er auf dem Hosenboden eingesetzt, war umgangssprachlich – analog zu seinem Gebrauch als Haushaltsgerät – oft von ausklopfen oder ausstauben die Rede.

 

 

Et voilà: Der Staubsauger. Und das Teppichklopfen wurde fast nur noch beim Frühjahrsputz notwendig.

staubsauger

 

 

 

 

 

Und neuerdings, quasi verkehrt herum und sehr, sehr laut: Der Bläser!

blaeser

 

 

 

 

 

 

 

Ah ja, Morgensterns Igelgedicht:

Igel und Agel

Ein Igel sass auf einem Stein
und blies auf einem Stachel sein.
Schalmeiala, schalmeialü!
Da kam sein feinslieb Agel
und tat ihm schnigel schnagel
zu seinen Melodein.
Schnigula schnagula
schnaguleialü!

Das Tier verblies sein Flötenhemd …
„Wie siehst du aus so furchtbar fremd!?“
Schalmeiala, schalmeialü -.
Feins-Agel ging zum Nachbar, ach!
Den Igel aber hat der Bach
zum Weiher fortgeschwemmt.
Wigula wagula
waguleia wü
tü tü …

Jazz unter der Linde samt Glockengeläut

Wir sitzen abends unter einer Linde im Hof des Ritterhauses in Bubikon und hören ein Jazz-Konzert. Es spielen die Hot City Stompers aus Luzern alte Standards aus der New Orleans Ära und Dixieland, Schmissiges und Bluesiges. Begleitet werden sie vom Kreischen jagender Schwalben und vom Glockenschlag der Kirche Bubikon. „Muss das sein, dieses Glockengeläut“, meint mein Freund, „das ist doch ein alter Hut, heute, wo schon jedes Kind eine Uhr hat.“ Recht hat er, doch ich frage mich, ob ich noch weiss, weshalb Kirchenglocken eigentlich läuten und finde – wo wohl? – Folgendes:

Die Kirchen läuteten und läuten heute noch aus zwei Gründen. Es gibt sakrales (kirchliches) und profanes (weltliches) Läuten. Das profane gibt schlicht und einfach die Zeit an und wäre aus heutiger Sicht wohl absolut unnötig, vielleicht aber doch heimelig [Conrad Ferdinand Meyer: Horch, mein Kilchberg läutet jetzt]. Das sakrale Läuten ist hauptsächlich ein Gebets- und Gedächtnisläuten. Die Glocken rufen die Gläubigen zum Gottesdienst, sie rufen zur Hochzeitsfeier oder zum Gedenken an Verstorbene. Das Gebetsläuten richtet sich nach dem Stundengebet. Vielmehr muss man wohl sagen, es richtete sich danach.

Evangelisches Stundengebet

Laudes                      Morgengebet
Sext                        Mittagsgebet
Vesper                      Abendgebet
Komplet                     Nachtgebet

Katholisches Stundengebet

Vigil, Matutin              (sehr) Frühes Morgengebet
Laudes                      Morgengebet
Prim, Terz, Sext, Non  Tagesgebete
Vesper                      Abendgebet (die Arbeit ist getan)
Komplet                     Nachtgebet (der Tag ist vorbei; Mitternacht!)

Natürlich ist das alles noch viel komplizierter, aber mir genügt es. Noch etwas zu den Lärmklagen: Und der Lärm von Autobahnen, von überlauten Motorrädern, von Flugzeugen, etc.? Sind da Glocken nicht doch irgendwie in einer anderen Kategorie?
Hier noch das Gedicht von C.F. Meyer:

Requiem

Bei der Abendsonne Wandern
Wann ein Dorf den Strahl verlor,
Klagt sein Dunkeln es den andern
Mit vertrauten Tönen vor.

Noch ein Glöcklein hat geschwiegen
Auf der Höhe bis zuletzt.
Nun beginnt es sich zu wiegen,
Horch, mein Kilchberg läutet jetzt!

 

Leichteres Lesefutter

„Was liest denn du nur so zur Erholung, zum Entspannen? All die Titel, die du auf deiner Homepage erwähnst, verlangen Konzentration und einen wachen Geist. Ich suche spannende Unterhaltung für meinen müden Kopf.“ Dies die Bitte am sonntäglichen Kaffeetisch. Also suche ich mein Gedächtnis und meine Bücherregale ab und schlage nun Altbekanntes und vielleicht auch weniger Bekanntes vor:

Wilhelm Busch

Dieser Vorschlag bedarf wohl keiner Begründung. Schlage ich einmal eine Seite auf, bleibe ich für lange Zeit hängen!

Hier sieht man Bruder Franz und Fritzen
Zu zweit in einer Wanne sitzen.
Die alte Lene geht; – und gleich
Da treibt man lauter dummes Zeug.
Denn Reinlichkeit ist für die zwei
Am Ende doch nur Spielerei.
(Das Bad am Samstagabend; hier halt ohne die herrlichen Zeichnungen Buschs)
Wilhelm Busch. Gesamtwerk in sechs Bänden. Weltbild Verlag. Augsburg 1997

Lukas Hartmann
Die letzte Nacht der alten Zeit

Hartmann erzählt aus der Sicht eines Korporals die Flucht des Berner Schultheissen vor den Napoleonischen Truppen. Eine spannende, in einen Roman verpackte Geschichte aus der alten Schweiz. „In einer kalten Nacht fährt ein Schiff über den Thunersee. Die Menschen an Bord sind auf der Flucht.“ März 1798. Ich habe die 280 locker bedruckten Seiten in einem Zug durchgelesen.
Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag München. 2007

Marguerite Duras
Der Vizekonsul

Exotischer Orient zur Zeit, als das Französische Kolonialreich noch einigermassen Bestand hatte. Ort der Handlung ist Kalkutta, ist die Ebene von Tonlé-Sap. Die Figuren des Romans sind Europäer; sie leben in ihren Villen und Parks, spielen Tennis. Draussen aber ist die Hölle. Zu Marguerite Duras‘ bekanntesten Werken gehörten nebst dem Vizekonsul Der Liebhaber und Hiroshima mon amour.
Suhrkamp Taschenbuch 1984

Alex Capus
Patriarchen

Zehn Protraits wichtiger Schweizer: Rudolf Lindt (Schokolade); Carl Franz Bally (Schuhe); Julius Maggi (Suppenwürfel); Antoine Le Coultre (Uhrmacher); Henri Nestlé (Milchpulver; Nestlé entstammte einer schwäbischen Familie Näschtle); Johann Jacob Leu (Bankier); Fritz Hoffmann-La Roche (vom wirkungslosen Hustensaft zum Pharmakonzern); Charles Brown und Walter Boveri (Nach hundert Jahren Industrialisierung war es auf der Welt noch immer dunkel. … Aber dann schafften es Charles Brown und Walter Boveri …); Walter Gerber (Käse); Emil Bührle (Waffenschmied).
Leicht und flüssig erzählt Capus von diesen Männern, die fast alle Einwanderer waren, manche in erster, viele in dritter oder vierter Generation.
Taschenbuchausgabe 2008. btb Verlag

Alex Capus
Der Fälscher, die Spionin und der Bombenleger

Drei Lebensgeschichten:
Der pazifistische Jüngling Felix Bloch gerät nach Los Alamos, wo er Robert Oppenheimer beim Bau der Atombombe helfen soll;
die rebellische Musikantentochter Laura d’Oriano versucht sich als Sängerin und lässt sich als Spionin rekrutieren;
der Kunststudent Emile Gilliéron folgt Schliemann nach Troja und zeichnet und zeichnet.
Das ist sehr vergnüglich und flüssig zu lesen und informiert doch ernsthaft über über unsere moderne Welt.
Carl Hanser Verlag München. 2013

Wolf Haas
Der Brenner und der liebe Gott

Ein Buch aus Österreich in eigenartigem Deutsch. Aber ein wirklich spannender Krimi.
Hoffmann und Campe. Hamburg. 2009

Martin Walker
Bruno, Chef de police

Davon gibt es mittlerweile eine ganze Reihe, Irrtum vorbehalten acht Kriminalromane, die alle im Périgord spielen, alle mit dem gleichen Personal, und die jene Gegend Frankreichs farbig darstellen und die Küche des Périgord mit sehr schönen Rezepten feiern, denn Bruno ist nicht nur Polizist, Reiter, Liebhaber der Frauen, sondern auch grossartiger Hobbykoch.
Diogenes Verlag Zürich

Deutsche Gedichte

Warum nicht hin und wieder ein Gedicht sich zu Gemüte führen. Es gibt da die wildesten Sachen von Ernst Jandl, die lustigsten von Morgenstern oder die alten, schönen, romantischen wie jenes Abendlied von Josef von Eichendorff:

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Deutsche Gedichte. Eine Antologie. Philpp Reclam jun. Stuttgart. 1984

So: Ich wünsche viel Spass bei der Lektüre!

 

1. August 2016

Ende der Siebzigerjahre machten wir auf der Heimreise von einem Elternbesuch in Dietikon Halt am Bellevue in Zürich und assen im Vorderen Sternen eine Bratwurst, von welcher Bundesrat Moritz Leuenberger sagte, es sei die Beste in der ganzen Stadt. Wie er das wissen könne, meinte eine Freundin, er sei doch Vegetarier! Nun denn: Zu viert standen wir an jenem Ersten August an der Ecke zur Rämistrasse, hörten dem patriotischen Lärm zu und genossen unsere Würste, als ein hupender deux chevaux mit hochgeklapptem Seitenfenster, aus welchem ein Mann seinen nackten Hintern herausstreckte, an uns vorbeifuhr.

Vive la patrie!

Es gibt viele Arten, den Geburtstag des Vaterlandes zu feiern.

Im Zug zu Dürrenmatt

Während der Fahrt im Neigezug von Zürich nach Neuenburg mit dem Ziel Centre Dürrenmatt erinnerte ich mich wieder an jene Episode, die auf mich beinahe absurd wirkte, und die ich meinen Begleitern aus dem Literaturzirkel sogleich erzählte.

Vor Jahren sass ich allein in einem solchen Neigezug, unterwegs zu einer Tagung in Solothurn. Ich war gut vorbereitet, musste also keine Akten mehr studieren, sondern las in Dürrenmatts früher Prosa, die ich zu Hause eingepackt hatte, die Erzählung Der Tunnel. Erst nach einiger Zeit, als der Kondukteur mein Billet kontrollierte, sah ich auf und stellte verblüfft fest, dass ich im Zug Friedrich Dürrenmatt sass, welcher Zufall! – Alle diese Züge tragen Namen berühmter oder wenigstens bekannter Schweizer: Adolf Wölfli, Niklaus Riggenbach, Alfred Escher, usw. – An den Wagonwänden fanden sich Zitate aus Dürrenmatts Werken, darunter auch das bekannte, wonach eine Geschichte erst dann zu Ende erzählt ist, wenn ihr schlimmstmögliches Ende erreicht ist. Belustigt vergrub ich mich wieder in Dürrenmatts Geschichte bis ich bemerkte, dass der Zug still stand. Und zwar mitten im Feld, kein Bahnhof weit und breit. Da kam der Kondukteur in den Wagen und bat uns Passagiere, nach vorne zu gehen bis zu vorderst im Zug. Wir hätten eine Panne und könnten nicht mehr weiter. So trotteten wir denn einer hinter dem andern irgendwie verunsichert die schmalen Gänge nach vorne durch unbequeme Durchgänge von einem Wagen zum andern. Nach vorne, immer weiter nach vorne bis vor den Führerstand, der aber leer war. „Da sassen wir noch in unseren Abteilen und wussten nicht, dass schon alles verloren war“ dachte er. … Doch wie sich die Maschine weiter hinabsenkte, um nun in fürchterlichem Sturz dem Innern der Erde entgegen zu rasen … schrie der Zugführer durch das Tosen der ihnen entgegen schnellenden Tunnelwände hindurch „Was sollen wir tun?“ „Nichts. Gott liess uns fallen und so stürzen wir auf ihn zu.“ Zuvorderst stiegen wir endlich aus, wurden etwas später in einen alten, wohl fast schon ausrangierten Zug komplimentiert und zum nächsten Bahnhof gefahren. Der Neigezug Friedrich Dürrenmatt blieb im Feld zurück.

Im Centre Dürrenmatt erwartete uns eine interessante Ausstellung zu Dürrenmatt & Ionesco.

Miteigentümerversammlung die zehnte

Was, schon bald leben wir zehn Jahre in der Siedlung im Eschberg!?

Die Versammlung lockte manche Miteigentümerinnen und einige Eigentümer an, insgesamt vierzehn, was mit den erteilten Vollmachten Abwesender zur Beschlussfähigkeit ausreichte und erst noch den gemütlichen Raum in der Alten Metzg nicht überforderte. In der Alten Metzg wurde bis Ende des Neunzehnten Jahrhunderts tatsächlich Frischfleisch verkauft; später wurde das Gebäude als Wohn- und Waschhaus benutzt – es liegt ja auch direkt am Dorfbach, nicht weit vom Grüezibrüggli entfernt. Seit 1993 ist es im Besitz der Reformierten Kirchgemeinde Dürnten. [Quelle: www.refduernten.ch]

Die Versammlung genehmigte die Rechnung nach Kenntnisnahme des Revisorenberichts, hiess das Budget gut, bestätigte in den Wahlen alle bisherigen Chargen und verdankte mit Applaus die Arbeit der beiden Hauswarte. Der Erneuerungsfond soll weiterhin geäufnet und das Geld einem separaten Konto zugewiesen werden, welches nur mit Doppelunterschrift geplündert werden darf. (Man entschuldige die finanztechnisch wenig professionelle Ausdrucksweise.)

Es ergehen drei Aufrufe an alle Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung: Bitte auf dem Containerplatz nur Gut deponieren, das laut Entsorgungsverordnung der Gemeinde dort auch abgeholt werden wird; es schreibe sich bitte jede der vierundzwanzig Wohngemeinschaften mindestens eine Woche für die Spielplatzreinigung ein; man insistiere bitte bei kleinen und grossen, leichten und schweren Kindern, Spielsachen, Spielgeräten, Zäunen und anderem Gemeingut Sorge zu tragen.

Ach, und der Evergreen: Noch immer liegt Wasser in der Tiefgarage.

Schon kurz vor acht, also nach noch nicht einmal einer ganzen Stunde, ist alle Arbeit getan und die Eschbergler stieben auseinander. Man sieht sich – an Fronleichnam 2017.