Altes und Neues in der Natur, in der Erziehung und der Philosophie

Im Herbst, als wir hier einzogen, liess ich drei Niederstammapfelbäume pflanzen, einen Boskop, einen Gravensteiner und einen Coxorange. Alte Sorten. Der Boden sei lehmig, und das Wetter käme hier schon des öftern recht harsch vom Eschberg her, meinte der Gärtner, aber man könne es ja versuchen. Im nächsten Frühling blühten die Bäumchen prachtvoll, und der Coxorange trug drei Früchte. Im Frühling drauf – also jetzt – blüht keiner. Ja, meinte der ältere Herr aus Hadlikon, der die Eier bringt, Apfelbäume tragen eben nicht jedes Jahr – zum Glück, es gäbe ja sonst viel zu viele Äpfel.
Nachbarn liessen zur selben Zeit Spindelapfelbäume pflanzen – Neuzüchtungen. Sie trugen sofort grosse, rote, runde, saftige Äpfel.
Der Boskop, sagte eines samstags der Apfelhändler im Dorf, überlege es sich oft einige Jahre, ob er überhaupt Äpfel machen wolle, der Coxorange sei sowieso ein heikler Bursche, und was er Schlechtes über den Gravensteiner wusste, weiss ich nicht mehr. An der Jahresversammlung des Naturschutzvereins im Nachbardorf schwärmte dafür eine alte Bäuerin von den neuen Spindelbäumen.
Mein Freund, der Semiotiker und Romanist, hat sich die Bilder auf dieser Homepage angeschaut und gefunden, unsere Siedlung habe etwas durchaus Rousseauhaftes. Man lese nur einmal die Cinquième promenade in Les rêveries du promeneur solitaire. Was da der grosse Revolutionär im Vorfeld der französischen Revolution und auf der Flucht vor seinen Pariser Verfolgern auf seinen Spaziergängen auf der Île Saint Pierre im Bielersee sieht und beschreibt, sieht mein Freund, dieser Anhänger eines viel moderneren Revolutionärs (Foucault) in unserer Zeit auf den Fotos, die rund um den Eschberg geknipst worden sind: Rousseau sieht er, den Grossstadtrevolutionär aus Paris mit seiner Botanisierbüchse auf dem Bahndamm der Uerikon-Bauma-Bahn, pardon, auf der Petersinsel, der schliesslich doch von der Berner Obrigkeit aus Selbstschutz weggeschickt worden ist. So werden auch die Zürcher fast zweihundert Jahre später froh gewesen sein, als sie Lenin im plombierten Wagen losgeworden sind.
Wir leben im Darwinjahr. Foucault stammt von Darwin ab, sagt der Basler Professor Sarasin, der in Zürich lehrt. Darwin, das ist der alte Herr in Zylinder in langem, weissem Bart, und Rousseau, noch früher, ist jener Philosoph, der ganz entgegen dem damaligen Zeitgeist behauptete, der Mensch sei von sich aus gut, man müsse die Kinder nur leben und wachsen lassen, der Natur nicht dreinreden! Emile heisst sein grosser Erziehungsroman, der uns Heutigen über all die lange Zeit hinweg vielleicht doch den einen oder andern Gedanken zum Heranwachsen unseres Nachwuchses einpflanzen kann, gerade so wie Pestalozzi oder – er nun ganz ohne zeitliche Distanz – Remo Largo.

Für Leseratten, die nebst dem Neuen auch Altes schätzen würden:
Jean-Jacques Rousseau: Les rêveries du promeneur solitaire. Flammarion. Paris 1997
Jean-Jacques Rousseau: Emile ou de l’Education. Flammarion. Paris
Johann Heinrich Pestalozzi: Lienhard und Gertrud
Philippe Sarasin: Darwin und Foucault. Suhrkamp Verlag 2009
Remo H. Largo: Schülerjahre. Piper Verlag 2009 (aber auch, etwas früher: Babyjahre; Kinderjahre)

Pour finir: Ein kleiner Auszug aus der cinquième promenade:
On ne m’a laissé passer guère que deux mois dans cette île, mais j’y aurais passé deux ans, deux siècles, et toute l’éternité sans m’y ennuyer un moment … Je compte ces deux mois pour le temps le plus heureux de ma vie … Quel était donc ce bonheur et en quoi consistait sa jouissance? Le précieux far niente fut la première et la principale de ces jouissances que je voulus savourer dans toute sa douceur …

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