Auch das soll hier seinen Platz haben

Ende Jahr schickte Werner mir noch eine Mail: „Ich führe das Leben eines (antriebslosen) Paschas und gehe von Chemo zu Chemo, mit den verschiedenen Nebenwirkungen, was aber weniger schlimm ist, als es tönt, solange nichts schief läuft.“
Wir zwei Werners waren zusammen in der Berufsausbildung, besuchten gemeinsam Friedrich Dürrenmatt in Neuchâtel, frequentierten die gleiche literarische Diskussion achtmal jährlich, trafen uns dann und wann im Literaturhaus und versicherten uns unserer Urteile immer wieder per Mail.
So schrieb ich ihm einmal:
„Vor einer Woche, anlässlich der Diskussion über „Sieben Jahre“ von Peter Stamm meintest Du, wir müssten einmal die Diskussion darüber führen, dass unsere Generation zwar Werte beseitigt, aber keine neuen vermittelt hätte. Heute nun, wie ich den gestrigen Abend Revue passieren lasse, merke ich, dass wir beim Wein die Gelegenheit dazu verpasst haben, schliesslich hätte uns Leo Perutz mit seinem „Der schwedische Reiter“ einen schönen Vorwand geliefert, über bürgerlich-republikanische und protestantische Werte zu debattieren.
Welche Werte haben wir denn verjagt? Eben diese bürgerlich-protestantischen? Fleiss, Disziplin, Gehorsam, Sparsamkeit, Anerkennung der Berufspflicht (Max Weber: ‚… als ein Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte geht der Gedanke der ‚Berufspflicht’ in unserem Leben um.’)?
Der unbedingte Gehorsam war und ist uns Feind, die Sparsamkeit hat tatsächlich gelitten, beinahe ausgelitten, die Disziplin in der Form der Selbstdisziplin ist zwar noch anerkannter aber kaum gelebter Wert, und ‚ohne Fleiss kein Preis’ gibt es auch fast nur noch im Kabarett (César Keiser in ‚Odysseus der Zweite’).
So. Und was setzen wir nun an die Stelle von Gehorsam und Sparsamkeit? Mit Gespräch, mit Einsicht, mit Demokratie wollten wir, geprägt von den Fünfzigerjahren, (Kadaver-)Gehorsam und das Ducken in Hierarchien überwinden, glaube ich. Aber Fleiss und Sparsamkeit sind wohl tatsächlich dem Hedonismus geopfert worden.
Ja, es ist schwierig, rückblickend nicht völlig illusionslos zu werden. So scheint es auch Urs Widmer zu gehen: (Urs Widmer. Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück. Diogenes. Zürich 2002)
‚Die Werte der Sieger sind gut, die Werte der Verlierer schlecht. Es gibt kein Sowohl-als-auch. Es gibt keine Ambivalenz. Die Harten von damals sind die Coolen von heute, und die Alphatiere von heute joggen um sechs Uhr früh durch den Wald, um gesund zu sein, gesund und kompetitiv, und man hat auch bei ihnen zuweilen den Verdacht, dass sie in den Nicht-so Gesunden und weniger Kompetitiven, wie einst die Faschisten, unwertes Leben sehen.
Im Modell der modernen Ökonomie schlummert also faschistisches Denken. … Früher gab es – die Älteren unter Ihnen werden sich daran erinnern – den Begriff der entfremdeten Arbeit, weil man sich eine nicht entfremdete Arbeit immerhin noch vorstellen konnte. Heute ist der Begriff verschwunden … Wer aber hat als Zwölfjähriger davon geträumt, ein Corporate Key Relationship Manager zu werden?’
Ja, lieber Werner, wir sollten wirklich einmal über verlorene, zerstörte, fehlende, vermisste, wieder gefundene, neu erfundene, zukunftsträchtige Werte diskutieren.“
Doch jetzt ist es zu spät.

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