1914 – 2014

 

Die Zeitungen und Fernsehkanäle füllen sich mit Beiträgen zum Ersten Weltkrieg, zum Grossen Krieg. Georg Kreis hat ein Buch dazu veröffentlicht: „Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914 – 1918“ (Verlag Neue Zürcher Zeitung. Zürich. 2014). Es ist voller Fotografien. Viele erinnern mich an Bilder, die ich als Knabe bei meinen Grosseltern gesehen habe: der Grossvater als Fourier mit Pistole. War er im Aufgebot gegen den Landesstreik? Im November 1918 war meine Grossmutter mit meinem Vater schwanger. Hatte sie Angst um den Grossvater? Keine Erzählung der Grosseltern aus dem Ersten, wohl aber unzählige meiner Eltern aus dem Zweiten Weltkrieg sind mir geblieben. Dennoch wussten wir schon als Knaben: Das war ein fürchterliches Gemetzel! Wie sind wohl die Menschen damals mit all diesem Leid umgegangen? Wie lasen sie, und wie lesen wir heute, „in sicherer Geborgenheit“, das Galgenlied von Christian Morgenstern?

Das Knie

Ein Knie geht einsam durch die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts!
Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!
Es ist ein Knie, sonst nichts.

Im Kriege ward einmal ein Mann
erschossen um und um.
Das Knie allein blieb unverletzt –
als wärs ein Heiligtum.

Seitdem geht’s einsam durch die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts.
Es ist kein Baum, es ist kein Zelt.
Es ist ein Knie, sonst nichts.

Morgensterns einsames Knie geht nun allerdings bereits seit 1905 durch die Welt, ist also keine Folge des Grossen Krieges. Aber irgendwo wird eben immer auf Menschen geschossen – sichere Geborgenheit in sicherer Zeit scheint auch heute eine blosse Hoffnung zu sein.

Und doch: die Schweiz der Nachkriegszeit ist eine Insel der Geborgenheit. So freute sich denn mein Freund wie folgt auf eine Einladung: „Wir beide kommen mit drei alten und einem neuen Knie stramm zum Stamm.“

2 Gedanken zu „1914 – 2014“

  1. Mit den Schülern las ich „Im Westen nichts Neues“. Und vorgestern stiess ich in einem suhrkamp-stw-Band (den ich seit Jahren immer wieder mal durchblättere, nie aber systematisch gelesen habe) auf das folgende Zitat: „Die Geschichte der Germanistik ist aus der Wirkung bedeutungsloser Bücher und der Bedeutung wirkungsloser Bücher komplementär gebildet.“ (C. Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1976; Erstpublikation: 1932).
    Das bonmot von der „Wirkung der bedeutungslosen Bücher“ lässt sich auf „Generation Maybe“ anwenden. (Oliver Jeges „Generation Maybe“.Haffmans & Tolkemitt. Berlin. 2014) Zu untersuchen wäre also in einem solchen Falle, wie Wirkung entfaltet wird – trotz wenig Substanz und/oder unzulänglichen Stil-Qualitäten. Diese Arbeit ist gemacht für die Rezeption trivialer Texte, aber weniger für populärwissenschaftliche Sachbücher (wozu „Maybe“ gehört).-
    Der Kontext 1914 – 2014 hat „Im Westen nichts Neues“ zu einem wirkungsvollen und bedeutsamen Buch gemacht. Interessant wäre die Frage, inwiefern die stilistischen Glanzstücke mit expressionistischem Einschlag von kritischen Zeitgenossen heute (dennoch) als „Kitsch“ abqualifiziert werden („sich in Mutter Erde hin eingraben …“).

    1. Mit Datum 4. März 2014 hat Urs Bitterli auf Journal 21 in seiner Kolumne Alte Bücher – neu besprochen “Im Westen nichts Neues” zur Wieder-Lektüre empfohlen. Eine Stilanalyse legt er dabei allerdings nicht vor. [www.journal21.ch]

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