Après nous le déluge

Umberto Eco, der italienische Semiotiker und Bestsellerautor (Der Name der Rose), sagt immer wieder, dass die Bücher im Büchergestell miteinander redeten. Sie tun das im Kopf des Lesers. Markante, einleuchtende, faszinierende, bewegende Stellen erinnern an Passagen in anderen Büchern – und schon eile ich zum Gestell und suche in längst verflossener Lektüre.
Zurzeit habe ich Sloterdijks „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ hinter mir. Kein Buch für trauliche Mussestunden, vielmehr die Darlegung einer zutiefst pessimistischen Weltsicht. In unserer heutigen Welt herrscht Ratlosigkeit gegenüber einer mehr als ungewissen Zukunft:
„Hamlet stirbt kinderlos und ratlos, indem er dem siegreichen Nachfolger müde zuwinkt. Nicht nur in Dänemark ist die verfasste Welt aus den Fugen. Sie gerät, wohin man sieht, in den freien Fall.“ [S.424] Ich entnehme meinem Büchergestell Dürrenmatts Prosaband aus den Fünfziger Jahren und lese den letzten Satz der Geschichte „Der Tunnel“: „Nichts! Gott liess uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu.“ Dürrenmatts Erzählung beginnt übrigens wie folgt: „Ein Vierundzwanzigjähriger, fett, damit das Schreckliche hinter den Kulissen, welches er sah, … nicht allzu nahe an ihn herankomme, der es liebte, die Löcher in seinem Fleisch, da doch gerade durch sie das Ungeheuerliche hereinströmen konnte, zu verstopfen, derart, dass er Zigarren rauchte … und über seiner Brille eine zweite trug, eine Sonnenbrille, und in den Ohren Wattebüschel …“ Zu jener Zeit gab es eben noch keine Smartphones mit Ohrenstöpseln!
Der Pfarrerssohn Dürrenmatt ist immer wieder als Nihilist bezeichnet worden. Aber anders als bei Sloterdijk stürzen wir hier nicht unaufhaltsam ins Bodenlose, sondern auf Gott zu.
In den Sechzigerjahren begegnete ich zum ersten Mal Becketts „Warten auf Godot“ und erlebte später die grossartige Inszenierung im Tramdepot Tiefenbrunnen. Die Dialektfassung schrieb Urs Widmer, und Ruedi Walter spielte darin eine seiner Glanzrollen. Verstanden habe ich seinerzeit das Stück doch nicht: zu absurd erschien mir dieses Theater. Nun lese ich bei Sloterdijk die folgende Stelle [S.438-439]:
„Pozzo: Sie gebären rittlings über dem Grabe, das Licht leuchtet auf für einen Augenblick. Dann ist es wieder Nacht …
Vladimir: Rittlings über den Gräbern, eine schwierige Geburt. Tief unten in der Grube legt träumerisch der Totengräber die Zangen an … [soweit Beckett – und nun Sloterdijk:]
Indem er Geburt und Begräbnis kurzschliesst, gelingt Beckett eine Vision der vergeblichsten Bewegung: Sie verbindet das pränatale Nichts fast ohne Übergang mit dem postmortalen Dunkel. Man kommt nicht umhin, in diesem Bild eine der starken Selbstaussagen des von Krieg und Staatsterror geprägten Zeitalters zu erkennen, in dem die Verschwendung von Leben und Lebenszeit chronisch geworden war – nicht zuletzt bei jenen Millionen Jugendlichen an allen Fronten, die von greisen Generälen aus sicheren Hauptquartieren in den Tod geschickt wurden.“
Wie harmlos dagegen und doch erschreckend ähnlich meine Beobachtung an der Fussball-WM in Brasilien [siehe den Text „Tor oder nicht Goal“ vom Juli 2014]: Der Grossvater (Scolari) führt und befielt, die Enkel (Neymar) gehorchen!
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PS: Weshalb dieser Titel? Der Ausspruch der Madame de Pompadour ist so etwas wie ein Leitmotiv in Sloterdijks Buch. Selten ist ein so altes Bonmot so aktuell geworden!

3 Gedanken zu „Après nous le déluge“

  1. Ja, irgendwann stützt die Welt wohl ins Nichts – soweit es die Phänomen ’stürzen‘ und ‚Nichts‘ dann noch gibt. Eigentlich wissen wir das ja alle. Damit erklärt man aber auch jedes Bemühen, irgendwas zu verbessern, als unnütz und damit als unnötig.
    Ich werde dieses Buch nicht lesen, auch wenn mir die vernichtende Kritik im Spiegel (vgl. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/peter-sloterdijks-neues-buch-die-schrecklichen-kinder-der-neuzeit-a-974984.html) nicht mag.

    Statt dessen denke zurück an die Zeit als ich in der Bündner Kantonsbibliothek Spenglers Werk „Der Untergang des Abendlands“ gefunden, ausgeliehen und verschlungen habe – und nun wusste, dass alle andern Menschen ihre Augen vor der Wirklichkeit veschliessen. Ich denke zurück an die 68er Jahre, als wir noch wussten wie man alles Besser machen konnte – und wir glaubten, die bessere Welt noch in unserem Leben realisieren zu können.

    Das Abendland ist noch nicht untergegangen. Es ist vielleicht sogar ein ganz klein wenig besser als zu Spenglers Zeiten. Weil wir aber über neue potentere Informationsmittel verfügen wissen wir viel genauer als früher, was andernorts (und sogar bei uns) Schlimmes geschieht. Ebenso Schlimmes wie bei uns im 20. Jh – ich erinnere an den kürzlich im Tagi publizierten Bericht über den 2. Weltkrieg. (ja, über den zweiten!)

    Wie mit all den Gräuelmeldungen umgehen? Ich sitze immer noch an meinem Computer und versuche das eine oder andere ein bisschen zu verbessern. Das hat übrigens den Vorteil, dass ich weiss für was ich (noch) lebe!. Ich erlaube mir aber auch mehr als früher Schönes und Gutes zu geniessen. Uns sogar: mal wegzuschauen, wegzuhören, wenn beschrieben wird, wie schlimm die Welt ist.

    Nik Ostertag spricht mir in seinem neusten Blog-Beirag „Ermutigung“ aus dem Herzen, vgl. http://nikostertag.wordpress.com/2014/08/13/ermutigung/

    Emil Wettstein

  2. Zuerst sagte ich mir auch: Dieses Buch liest du nie. Ich weiss nicht mehr, was mir dann doch den Anstoss gab, in die Lektüre einzusteigen. Ich habe diese „schrecklichen“ Lesestunden nicht bereut, wenn sie mir auch Kraft gekostet haben.
    Was du seinerzeit, lieber Emil, bei Spengler gefunden hast, fand ich bei Proust. Nach der Lektüre von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ hatte ich das Gefühl, besser in andere Menschen hineinsehen zu können als andere in mich. Oh dieses herrliche Hochgefühl!
    Die Zuversicht, die mich jungen Mann begleitete, dass wir es „besser machen“ würden und eine „bessere Welt“ realisieren könnten, hat sich in den letzten Jahren in mir etwas verloren. Die Pädagogik und die Bildungspolitik, die mein Berufsleben prägten, gelten heute nicht mehr. Michael Hampe bezeichnet die Reformpädagogik als blosses Intermezzo, und ich glaube, er hat Recht. So sehr ich dir zustimme und Ostertags Replik schätze, so nagt doch der Zweifel in mir, ob das genüge, den „Sturz ins Bodenlose“ aufzuhalten. Aber natürlich, gegen das Lamento über den Untergang aller Werte wehre ich mich auch immer noch. A propos déluge: … und wieder scheint die Sonne!

  3. Intermezzo, Anfang oder Abgesang? Das ist eine Frage des Standpunktes … und der Lust am Tode: Indem man reflektiert, zerpflückt, vergegenwärtigt, gewinnt man Distanz, nimmt sich weniger wichtig, und kommt zur Einsicht, dass es weitergeht: Auch geologische Formationen verleihen dem Zeitverlauf ein Gewand … „Eins: Oh Mensch! Gieb Acht! … Doch alle Lust will Ewigkeit -, – will tiefe, tiefe Ewigkeit! : Zwölf!“ Nietzsche.

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