Herr: Es ist Zeit

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süsse in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Das ist, finde ich, ein sehr schönes Gedicht. Ich zitiere es nach dem schönen, trockenen, heissen Sommer 2015 sehr gerne. Aber es ist ein altmodisches Gedicht. Kein Wunder, Rainer Maria Rilke, der es geschrieben hat, lebte von 1875 bis 1926. Schon der Beginn, der Anruf an Gott, wirkt nicht gerade zeitgemäss angesichts unserer meist leeren Kirchen. Immerhin gilt ja die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft noch heute. Sie beginnt mit „Im Namen Gottes des Allmächtigen“. Die Sonnenuhren finden sich kaum mehr an Hauswänden – was allerdings auch schon zu Rilkes Zeit gegolten haben dürfte. Am deutlichsten der Vergangenheit zugehörig ist wohl der Satz „Wer jetzt allein ist, … wird lange Briefe schreiben …“ Die Feuilletons unserer Zeitungen sind ja voll des Jammerns darüber, dass ob all der Emails, Blogs, Chats und SMS und MMS die ach so hohe Kunst des Briefeschreibens aussterbe. (Womit dann auch gleich das Abendland untergehe – es sei denn, es existiere gar nicht mehr, wie Sloterdijk in „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ feststellt.)

Mir gefallen Rilkes „altmodische“, trotz der traurigen Grundstimmung irgendwie versöhnliche Formulierungen, und ich freue mich tatsächlich darauf, in Alleen durch raschelndes Herbstlaub spatzieren zu können, wenn auch eher gemächlich und ruhig als unruhig wandernd.

Allerdings stimmt es mich nachdenklich, dass ich den „grossen Sommer“ nicht so überzeugend loben kann angesichts des Verdachts, dass wir ihn vor allem der von uns Menschen erwirkten Klimaveränderung und Erderwärmung zu verdanken haben und nicht einem gütigen Gott.

Und doch: Hoffen wir noch auf ein paar südlichere Tage und freuen wir uns auf den neuen süssen, schweren Wein!

Ein Gedanke zu „Herr: Es ist Zeit“

Schreibe einen Kommentar zu Emil Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert