Platon im Striptease-Lokal

Auf meinem Schreibtisch liegen noch ungelesen zwei Bücher von Umberto Eco, die „Nullnummer“ und „Bücher sprechen über Bücher“. Nun ist mir Umberto Eco unter der Lektüre weggestorben. Wie genoss ich seine Kolumnen – allerdings mangels Italienischkenntnissen auf Deutsch – etwa „Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass“. Darin gefiel mir bei der ersten Lektüre vor Jahren vor allem die Glosse „Ein neuer Heiliger Krieg: Mac gegen DOS“. Jetzt, auf die Nachricht seines Todes hin, lese ich nochmals den letzten Text dieser Sammlung: „Wie man sich heiter auf den Tod vorbereiten kann“. (Ich verrate hier Ecos Rat nicht, lade vielmehr ein, selbst nachzulesen. Kolumnen sind ja kleine, dichte, glänzende Kunststücke, die man nicht nach erzählen kann. Oder versuchen Sie das einmal mit einer Kolumne von Peter Bichsel oder von Pedro Lenz!) Ob Umberto Eco es geschafft hat, heiter zu sterben? Er war ein gewaltiger Leser. Alle Welt weiss ja, dass seine Privatbibliothek etwa fünfzigtausend Bücher enthielt. (In meinen Regalen stehen gerade einmal tausend!) Ich zitiere aus „Im Wald der Fiktionen“: „In jedem Fall werden wir nicht darauf verzichten, literarische Fiktionen zu lesen, denn sie sind es, in denen wir nach einer Formel suchen, die unserem Leben einen Sinn gibt.“ Eco hat mir wie vielen Zeitgenossen das Mittelalter näher gebracht. „Der Name der Rose“ und „Baudolino“ sind mir unvergessliche Lektüre-Erlebnisse. Baudolino, dieser grossartige (Lügen-)Geschichtenerzähler „stieg mit einiger Mühe auf sein Pferd, das hochbeladene Maultier am Zügel und das Schwert am Sattel, und ritt los … unbeirrt unterwegs zum Reich des Priesters Johannes.“

Mein anderer Gewährsmann für das Mittelalter ist bereits letztes Jahr verstorben, Dieter Kühn. Seine Einführung in den Parzival des Wolfram von Eschenbach oder sein Werk über Oswald von Wolkenstein lassen die Welt des Mittelalters, der Ritter, Raubritter, Liedersänger, der Bauern, diese Welt ohne Motoren, voller unvorstellbar lautem Vogelgesang, diese christlich geprägte, auf das Jenseits hoffende, zumeist armselige und schmutzige Zeit auferstehen. Dieter Kühn übersetzte die Werke des Wolfram von Eschenbach (Parzival), des Neidhart aus dem Reuental, des Gottfried von Strassburg (Tristan und Isolde) und Lieder von Oswald von Wolkenstein in heutiges Deutsch – eine epochale Leistung! Ich zitiere aus „Ich. Wolkenstein“:
„Nach Preussen, Litauen. Zur Krim; Türkei; ins Heilge Land;
nach Frankreich, Lombardei und Spanien. Mit zwei Königsheeren
(ich zog umher im Liebesdienst, doch zahlte selbst!)
mit Ruprecht, Sigmund: beide mit dem Adlerzeichen.
Französisch und arabisch, spanisch, katalanisch, deutsch,
lateinisch, slawisch, italienisch, russisch und ladinisch –
zehn Sprachen habe ich benutzt, wenn’s nötig war.
Auch konnt ich fiedeln, flöten, trommeln und trompeten.“

Keiner schreibt mehr, weder Kühn noch Eco – aber lesen kann ich sie immer noch und immer wieder!

Der Titel übrigens ist der Titel einer Kolumnensammlung von Eco (einer sehr frühen, wie man unschwer erraten dürfte). Darin empfiehlt sich etwa die Parodie: Die Entdeckung Amerikas. [Nachlesbar in Umberto Eco. Sämtliche Glossen und Parodien. Carl Hanser Verlag. 1990]

Ein Gedanke zu „Platon im Striptease-Lokal“

  1. Eco also schreibt: „In jedem Fall werden wir nicht darauf verzichten, literarische Fiktionen zu lesen, denn sie sind es, in denen wir nach einer Formel suchen, die unserem Leben einen Sinn gibt.“ Bei Hans Magnus Enzensberger finde ich in „Über Literatur“ in den Nachbemerkungen auf Seite 887 ein hübsches Gegenzitat: „Der aberwitzige Wunsch, der Alltag möge einen Sinn haben, ist äusserst hartnäckig. … Nun will es ein altes und fatales Herkommen, dass die Literatur als Produzentin dieser raren und wenig fassbaren Substanz herhalten soll. Was die Wirklichkeit nicht hergibt, dafür soll die Kunst einspringen. … Wer sich [als Dicher] darauf einlässt, der wird unversehens zum Schlagertexter, oder, was mir schlimmer scheint, zum Hohepriester.“ Und Enzensbergers Fazit: „Wenn meine Arbeit etwas stiften kann, dann ist es nicht Sinn, sondern Zweifel.“

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