Heisser Sommer und alte Lieder

Es ist sehr heiss. Es ist sehr trocken. Es drohe ein Sommer wie 1540, sagen die Wetter- und Klimaexperten. Zwischen Februar und dem 29. September 1540 habe es keinen Tag oder keine Nacht geregnet, hielt der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger fest. [Christian Pfister in der NZZ am Sonntag vom 5.8.18]

Wir verkriechen uns ins einigermassen kühle Innere und kommen erst spät abends vor das Haus. Und der Geist ist träge und angesichts des braunen Rasens, der hohen Temperatur, des fehlenden, kühlenden Nass erinnert er sich müde an Schlagertexte aus der Jugendzeit:

Am tag als der regen kam
Lang ersehnt heiß erfleht
Auf die glühenden felder
Auf die durstigen wälder

Das war Dalida im ebenfalls recht heissen Sommer 1957. Im Original sang Gilbert Bécaud eher von der Liebe als vom Wetter: Le jour où la pluie viendra

Le jour où la pluie viendra
Nous serons, toi et moi
Les plus riches du monde
Les plus riches du monde
Les arbres, pleurant de joie
Offriront dans leurs bras
Les plus beaux fruits du monde

Eigentlich ist es ja ungewöhnlich und unerwartet und toll, dass wir im Zürcher Oberland Tag für Tag mit grosser Sicherheit davon ausgehen können, dass auch morgen die Sonne scheinen wird, und wir müssten einstimmen in Harry Belafontes Calypso-Lied:

Down the way where the nights are gay
And the sun shines daily on the mountain top
I took a trip on a sailing ship
And when I reached Jamaica I made a stop

Down at the market you can hear
Ladies cry out while on their heads they bear
Ackey rice, salt fish are nice
And the rum is fine any time of year

[Solch feinen Rum habe ich vor wenigen Tagen aus der Karibik erhalten: grossartig, und herzlichen Dank, Yanilka!]

Harry Belafonte: Jamaica Farewell

Aber eben: 1540 droht, und das ist alles andere als fröhlich. Immerhin, wie es gegen Mitternacht geht, verstummt die Armada der Jets, die mit blinkenden Positionslichtern und grellen Scheinwerfern Urlauber nach Kloten zurück bringen, und langsam setzen sich Sterne gegen all das moderne Zivilisationsstreulicht durch, jedenfalls einige, sodass mir ein altes Kinderlied in den Sinn kommt:

Weisst du wieviel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?

Gott, der Herr, hat sie gezählet,
daß ihm auch nicht eines fehlet,
an der ganzen großen Zahl.

Was ist das denn? Matthias Claudius? Mörike? Eichendorff? Nein! Es stammt aus dem Jahr 1837 von Wilhelm Hey. Von ihm ist auch der Text des Lieds „Wer hat die Blumen nur erdacht“.

19. Jahrhundert. Der Mann muss Milliarden von Sternen am Himmel gesehen haben. (Da fällt mir ein, dass Dieter Kühn erzählt, wie die Vögel in früheren Jahrhunderten im Frühjahr jeweils einen „ohrenbetäubenden Lärm“ verursacht hätten. Und heute??) Ich sehe noch knapp den grossen Wagen. Sein Glaube an den allmächtigen Gott muss sehr gross gewesen sein (er war ja auch Pfarrer), dass er dem bärtigen Herrn zugetraut hat, sie alle zu zählen, ihnen allen Sorge zu tragen. Heute, wo wir darüber spekulieren, ob wir in einem Multiversum leben, wäre wohl auch sein lieber Gott vom Zählen überfordert.

Und dann heisst es wieder:

Day O, day O
Daylight come and me wan‘ go home
Work all night on a drink of rum
Daylight come and me wan‘ go home

Harry Belafonte: Day O

[Hören Sie die Melodien all dieser Lieder noch? Oder sind die Fünfziger Jahre doch schon zu weit zurück?]

 

6 Gedanken zu „Heisser Sommer und alte Lieder“

  1. Ja, Werner, ich kannte sie noch. Und ich habe sie alle mir noch mal angehört. YouTube sei Dank. „ Am Tag als der Regen kam“ hat Helena sogar mit mir getanzt. Und nachher den Kopf geschüttelt: ich sei ein ewiger Romantiker. So, und nun trinke ich noch einen Schluck Rum, wohl auch erstmals seit den fünfziger Jahren. Emil
    Danke, Werner.

  2. Das ist ja wohl nicht das schlechteste Kompliment, ein Romantiker zu sein. Über die Romantik, über Romantiker vom 19. bis ins 21. Jahrhundert hat Rüdiger Safranski ein schönes Buch geschrieben: Romantik. Eine deutsche Affäre. Hanser. 2007.
    Ich selbst bezeichne mich übrigens immer noch hin und wieder als Idealist, wohl wissend, dass Idealismus heutzutage recht verdächtig wirkt, gerade so wie Romantiker.
    Danke, Emil, und lass mir die Tänzerin herzlich grüssen.

  3. Noam und Donald waren sich vielleicht in einem einig, in ihrer Kritik der Medien. Die Wortwahl dürfte wohl eine unterschiedliche gewesen sein …

  4. Wirklich beeindruckt am Auftritt Chomskys hat mich seine Zuversicht in die Zukunft der US-Demokratie. Er sagte, die Jugend hätte sehr deutlich stärker für Sanders gestimmt als „die Alten“ und sehr viel weniger für Trump und war überhaupt des Lobes voll über das Engagement der Jungen. Belafontes erster Satz hingegen lautete: „Welcome to the fourth Reich!“ Und später „Where is the voice of Black America?“ Beide Herren wirkten erstaunlich frisch und geistig präsent (Belafonte *1927, Chomsky *1928).

  5. Irrtum meinerseits:
    Bezüglich Sanders: Chomsky bezog sich auf die Vorwahlen 2016. Bei den Wahlen votierte er für Clinton und bezeichnete Trump als „greater Evil“.

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