Hans Magnus Enzensberger ist 90

Er veröffentlicht dieses Jahr unter dem Titel Fallobst ein Buch von 167 Seiten. Auch der neunzigjährige Jürgen Habermas gibt 2019 ein Buch heraus, eine Philosophiegeschichte auf 1700 Seiten. An dieses monumentale Werk wage ich mich nicht heran. Aber sehr genüsslich wühle ich in Enzensbergers Fallobst. Er sammelt es in drei Körben, die jeweils Zitate von Dichtern und Philosophen oder eigene kurze oder etwas längere Texte enthalten. Sie alle illustrieren aufs Schönste die geistige Wachheit des alten Mannes, der ein Leben lang viel öfter gegen den Strom dachte und schrieb als bequem mit der Mehrheit mit zu schwimmen.

Vom Autor von Brave New World zitiert er: «Die medizinische Wissenschaft hat in den letzten Jahren so ungeheure Fortschritte gemacht, dass es praktisch keinen gesunden Menschen mehr gibt.» Aldous Huxley lebte von 1894 bis 1963. Sein Aperçu klingt heute noch weitaus plausibler.

Eine der drei kleinen Kindermythen (Seiten 60 bis 63) endet mit dem Satz: «Gegen den Eigensinn der Kinder kommt keine Pädagogik an.» Als pensionierter Lehrer kann ich dem nur beipflichten.

Enzensberger zitiert auch aus früheren Jahrhunderten. Besonders oft Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799): «Die Mönche zu Lodève in Gascogne erklärten eine Maus für heilig, die eine geweihte Hostie gefressen hatte.» Für den kirchenfeindlichen und der Religion ohnehin misstrauenden Lichtenberg «ein gefundenes Fressen», würde ich sagen. Mein Lichtenbergscher Lieblingssatz ist: «Unsere Erde ist vielleicht ein Weibchen.»

Wer Chamfort (1741 – 1794, also Zeitgenosse von Lichtenberg) war, musste ich erst googeln [worüber Enzensberger wohl mild gelächelt hätte]; es scheint «man» müsste ihn einfach kennen! Enzensberger schreibt: «Kaum eine Frucht, die von Chamforts Bäumen fällt, erweist sich mehr als zweihundert Jahre später als wurmstichig. Es hilft nichts, man muss sie aufsammeln.» Zum Beispiel: «Wenn man bedenkt, dass dreissig bis vierzig Jahrhunderte Arbeit und Aufklärung zu nichts weiter geführt haben, als dass die dreihundert Millionen Menschen auf der Erde dreissig zum grössten Teil unwissenden und einfältigen Despoten ausgeliefert sind, von denen jeder einzelne von drei oder vier mitunter stupiden Schurken beherrscht wird – was soll man von der Menschheit denken, was in Zukunft von ihr erwarten?» Chamfort entzog sich einer zweiten Verhaftung durch Selbstmord. Wen wundert’s angesichts solcher Schreibe? 

Ein letztes Zitat aus dieser phantastischen Sammlung lustiger und zum Nachdenken anregender Berichte: Enzensberger schreibt:

 

Sie möchten das lesen können? Ein Klick auf den Text, und es sollte Ihnen gelingen.

Hans Magnus Enszensberger. Fallobst. Nur ein Notizbuch. Suhrkamp. Berlin 2019

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert