Über Literatur

Wieder einmal, wie schon vor etwa vier Jahren, landet das Gespräch unter uns Freunden beim Thema Literatur. «Hast Du als Student und im Berufsleben anderes als Fachliteratur gelesen?» «Eigentlich nicht.» Literatur dient der (gehobenen) Unterhaltung. Ich halte dagegen und erwähne den Roman Martin Salander, von dem ein befreundeter Historiker und guter Kenner des 19. Jahrhunderts mir sagte: «Wenn Du das Neunzehnte verstehen willst, lies den Keller!» «Da liest man doch besser ein historisches Sachbuch!» Auch mein Hinweis auf Josef Roths «Radetzkymarsch» hilft nicht weiter, obschon ich darauf bestehe, dass Passagen wie die folgenden die Zeit und die Gesellschaft des demnächst untergehenden Habsburgischen Kaiserreichs auf eindrückliche Weise beschreiben:

«Damals, vor dem grossen Krieg, … war es noch nicht gleichgültig, ob ein Mensch lebte oder starb. Wenn einer aus der Schar der Irdischen ausgelöscht wurde, trat nicht sofort ein anderer an seine Stelle, um den Toten vergessen zu machen, sondern eine Lücke blieb, wo er fehlte, und die nahen wie die fernen Zeugen des Untergangs verstummten, sooft sie diese Lücke sahen. Wenn das Feuer ein Haus aus der Häuserzeile der Strasse hinweggerafft hatte, blieb die Brandstätte noch lange leer. Denn die Maurer arbeiteten langsam und bedächtig, und die nächsten Nachbarn wie die zufällig vorbeikommenden erinnerten sich, wenn sie den leeren Platz erblickten, an die Gestalt und an die Mauern des verschwundenen Hauses. So war es damals! Alles, was wuchs, brauchte viel Zeit zum Wachsen; und alles, was unterging, brauchte lange Zeit, um vergessen zu werden.»

«Und es war, als trüge von nun ab auch jeder der überlebenden Offiziere das Merkmal eines nahen, gewaltsamen Todes in seinem Antlitz, und für die Kaufleute und Handwerker des Städtchens waren die fremden Herren noch fremder geworden. Wie unbegreifliche Anbeter einer fernen, grausamen Gottheit, deren buntverkleidete und prachtgeschmückte Opfertiere sie gleichzeitig waren, gingen die Offiziere umher. Man sah ihnen nach und schüttelte die Köpfe. Man bedauerte sie sogar. Sie haben viele Vorteile, sagten sich die Leute. Sie können mit Säbeln herumgehen und Frauen gefallen, und der Kaiser sorgt für sie persönlich, als wären sie seine Söhne. Aber eins, zwei, drei, hast du nicht gesehn, fügt einer dem andern eine Kränkung zu, und das muss mit rotem Blut abgewaschen werden! …» [Nachdem sich zwei duellierende Offiziere erschossen hatten.]

Dies spielt Wochen vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs. Roths Roman lässt mich die damalige Welt verstehen. Es war übrigens der eher den Sachbüchern zugeneigte Freund, der mir nach unserem Gespräch eine schöne Stellungnahme zum Roman, die er vor Jahren verfasst hatte, zukommen liess, und der mir einmal ein schönes Petrarca-Zitat zugestellt hatte:

«Gold, Silber, Edelsteine, purpurfarbene Gewänder, Häuser aus Marmor errichtet, gepflegte Landgüter, fromme Bildnisse, mit Schabracken geschmückte Streitrosse und andere Dinge dieser Art bieten wandelbare und oberflächliche Genüsse; Bücher aber machen Freude, die ins Mark trifft; sie sprechen zu uns, beraten sich mit uns, verbinden sich uns in lebendiger Intimität.»

Worauf ich mit Umberto Eco antwortete:

„In jedem Fall werden wir nicht darauf verzichten, literarische Fiktionen zu lesen, denn sie sind es, in denen wir nach einer Formel suchen, die unserem Leben einen Sinn gibt.“ [Eco: „Im Wald der Fiktionen“]

Man sieht, so ganz der Literatur abgeneigt ist der Freund auch nicht. Wir haben übrigens nicht nur über Martin Salander und den Radetzkymarsch diskutiert, sondern auch über zwei schmale Bücher von Annie Ernaux: «Die Jahre» und «Eine Frau». Dazu schrieb mein Freund: Das ist «Literatur, die ich verstehe und schätze. Dies hat mit meiner Erfahrung zu tun, dass ich ‘Literatur’ z. B. Werke von Nobelpreisträger/innen, kaum je verstehe.» Na! Lieber Freund!!

Ob ich so weit gehen darf, Sachbücher der Kategorie «Klugheit», Literatur jener der «Weisheit» zuzuteilen? Als Illustration: Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat sich begeistert über den Grünen Heinrich Kellers geäussert und andernorts festgestellt: «Freud was clever, Wisdom is something I never would expect from Freud.» Er selbst fürchtete, er gehöre wohl auch «nur» zur Klasse der Klugen.

Oder, weit weniger pompös und wie schon einmal hier zitiert (Dezember 2010):

Den letzten Abend im Rahmen der Ringvorlesung „Recht und Literatur: Fechtschulen und phantastische Gärten“ bestritt Frau Limbach, die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Unter dem Titel „Recht und Poesie“ zitierte sie Conrad Ferdinand Meyers Ballade „Die Füsse im Feuer“. Denn, so sagte sie: „Wir lesen unseren Kindern Balladen vor und nicht Gesetzestexte, um sie zu erziehen.“ „Wild zuckt ein Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm.“ …

 

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