Hektor Haarkötter: Notizzettel

Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert

Ich lese über 500 seiten und bin begeistert. Haarkötter ist ein achtundsechziger der ersten minute; der professor hat jahrgang 1968. Sehr angenehm ist mir seine art des genderns: Er wechselt ungekünstelt zwischen femininem und maskulinem generikum, schreibt also etwa von schreiberinnen und lesern, philosophen und juristinnen, etc.

Schreiben im 21. jahrhundert, das ist, schreibt er, in den allermeisten fällen «one-to-zero-communication», und das ist, was ich hier auf diesen seiten seit vielen jahren mache.

Auf seite 531 findet sich Haarkötters ceterum censeo:
«Medien sind nicht zum Erinnern, sondern zum Vergessen da.» Oder in einem Enzensbergerzitat: «Gespeichert, das heisst vergessen.» Die andere, ebenso oft wiederholte these lautet: Meistens gilt: Kommunikant (die mitteilende äusserung) ohne kommunikat (ohne das mitgeteilte).

Haarkötter unterteilt «seine» kulturgeschichte, die eine kulturgeschichte des westens ist, in die drei epochen manuzän, typozän und digizän, was ich sehr originell finde. Er ist überhaupt ein findiger kopf. Im kapitel zum thema sprache / schrift erfindet er analog zum ausdruck «sprichwörtlich» den begriff «schreibschriftlich».

Kronzeugen für seine geschichte des notizzettels sind ihm die manischen notizenverfasser Lionardo da Vinci, Ludwig Wittgenstein, Jean Paul, Georg Christoph Lichtenberg und Robert Walser. Ist es zufall, dass sie alle zu meinen meist gelesenen autoren (nebst Marcel Proust, aber ausser da Vinci) gehören? Haarkötter lehnt sich häufig an Foucault an, zitiert öfters Enzensberger (auch zwei meiner lieblinge), wird aber auch bei schweizer autoren fündig:
Friedrich Dürrenmatt: «Die Leserlichkeit ist die Höflichkeit der Handschriften.»
Peter Bichsel: Ein Tisch ist ein Tisch.
Hugo Loetscher mit seinem vorschlag, an einem bestimmten stichtag einen globalen delete-befehl durchzuführen.

Ich lerne noch sehr disparate dinge wie beispielweise, dass Hokuspokus vom katholischen «hoc est corpus» herkomme, oder was es mit «Kilroy was here» auf sich hat. Auch den folgenden ausspruch von Karl Valentin kannte ich nicht: «Es ist zwar schon alles gesagt, aber noch nicht von jedem.» Und dass das whiteboard von Julius Caesar erfunden wurde und im deutschen komischerweise schwarzes brett heisst, war mir neu, wie auch die deutung des vornamens von Kofi Annan. Das buch ist eine wahre fundgrube, auch von kuriositäten und frischen wortschöpfungen. So schreibt Haarkötter angesichts des dreidimensionalen notizzettels in einer gefängniszelle auf dem Hohentwiel von «gedankengelass, gehirngemach, synapsenserail und konzentrationskabuff». Es stimmt: Die lektüre dieser fünfhundert seiten braucht konzentration: Aber das lohnt sich alleweil!

Hektor Haarkötter. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert. S.Fischer Verlag. 2021. Frankfurt am Main

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