Der Winterkönig

Bleiben wir doch noch ein wenig bei den Vögeln, genauer beim Zaunkönig und damit bei einem etwas anderen Weihnachts- oder Winterfest:
„Zaunkönige findet man überall; sie fressen nahezu alles; sie passen sich so gut wie allen klimatischen Bedingungen an – so wechseln sie zum Beispiel in Zeiten von Futterknappheit von Polygamie zu Monogamie. Sie bauen ihre Nester nahezu überall … Der Pfarrer und Naturforscher Reverend Edward A. Armstrong schrieb, er habe einmal ein Nest in einem menschlichen Schädel gefunden; wie, das schrieb er nicht.
Doch gar so schlicht ist der fruchtbare und unbekannte Zaunkönig keineswegs. In vielen europäischen Sprachen heisst er „Vogelkönig“ oder „Winterkönig“. Einen davon zu töten, brachte Unglück: Man brach sich die Knochen, bekam Ausschlag, wurde vom Blitz getroffen; die Finger der Hand, die die Untat vollbracht hatten, verdorrten und fielen ab; die eigenen Kühe hatten Blut in der Milch.
Einmal im Jahr machte man eine Ausnahme. In grossen Teilen Frankreichs, Irlands und der Britischen Inseln gab es, mittelalterlichen Schriften zufolge, eine ritualisierte Jagd auf den Zaunkönig, doch ist sie zweifellos viel älteren Ursprungs und war bis in die Neuzeit weit verbreitet …:
Etwa um die Zeit der Wintersonnenwende – zu Weihnachten oder am Stefanstag, dem 26. Dezember, zu Silvester, Neujahr oder am Dreikönigsabend – schwärzten sich die Knaben oder jungen Männer die Gesichter, kleideten sich verrückt – in Frauenkleidern, Nachtgewändern oder Strohkostümen – und zogen unter dem Klang von Querpfeife und Trommeln los, um auf der Jagd nach einem Zaunkönig auf die Büsche zu klopfen.“
Ob es im Alpenraum ähnliche alte Geschichten über den Zaunkönig, den „Druidenvogel“, gibt?
Und noch eine Geschichte zum Zaunkönig, diesem „Vogelzauberer“: „Als der heilige Stefan aus dem Gefängnis fliehen wollte, landete ein Zaunkönig auf dem Gesicht des Wärters und weckte ihn, was das Martyrium des Heiligen besiegelte.“
Die beiden obigen Passagen entnehme ich dem Buch „Das Wesentliche“ von Eliot Weinberger. 2008 Berenbergverlag, Berlin. In vierunddreissig Essays breitet Weinberger ein unerhört dichtes Geflecht aller möglichen Weltdeutungen aus allen Zeiten und fast allen Kulturen aus. Was da an Konzepten, Konstrukten, Mythen und Legenden, an Anekdoten und Weltbeschreibungen zusammen kommt, erschlägt mich fast. Für einmal trifft der Vorwurf der Europazentrizität, der einseitig christlichen Sicht auf die Welt überhaupt nicht zu. Von Essay zu Essay werde ich gespannter, was denn nun noch kommen wird. Azteken, Inkas, die Nazca, die Chinesen, Inder, Araber, aber auch Europäer wie Empedokles, Descartes, Blake haben ihren Auftritt. Ein unerhörtes Buch, und zudem auch ein sehr poetisches.

The wren, the wren, the king of all birds,
St. Stephan’s Day was caught in the furze;
Although he is little, his family’s great,
I pray you, good landlady, give us a treat.

Zaunkönig, Zaunkönig, König der Vögel / Ward an Stefani gefangen im Ginster / Zwar ist er klein, doch die Familie ist gross / Ich bitt’ Euch, gute Hausfrau, um eine Gabe.

Graureiher und Zaunkönige ziehen aus, neue Nachbarn werden einziehen

Der Graureiher, der oft am frühen Morgen im Berenbach stand oder am Ufer, der Fröschen und Mäusen auflauerte – Fische wird er wohl kaum gefunden haben – ist nun natürlich ob der lauten und nahen Bauerei verschwunden. Vielleicht jagt er weiter Bach aufwärts oder hat sich gar bis ins Bad Erlosen oder anderwärts verzogen. Auch die Gebüsche am Bach sind gerodet, Rotkehlchen und Zaunkönige mussten andere Wohnungen suchen. Wenn ich den Historischen Brutvogelatlas der Vogelwarte richtig lese, sind aber alle drei Vogelarten im Mittelland nicht gefährdet, ihre Bestände sind seit der Mitte des letzten Jahrhunderts sogar leicht erhöht. Stark erhöht ist natürlich der Bestand der Spezies Mensch im Mittelland. Deshalb wurde zu Beginn des neuen Jahrtausends unsere Siedlung im Eschberg auf der grünen Wiese gebaut – und nur noch einmal hüpften Frösche vom Bach über unseren Sitzplatz zum Ried. Und deshalb ziehen nun im nächsten Frühjahr neue Nachbarn in neue Häuser ein, sicher mit Kindern, Haustieren und Maschinen und Fahrzeugen aller Art. Und der Reiher zieht eben aus. Was kümmert’s die Krähen auf ihren Schlafbäumen am Eschberg, sie streiten und lärmen wie eh und je, lassen tagsüber ihre Nüsse auf die Berenbachstrasse fallen – und schon bald wird ein Auto darüber fahren und sie öffnen.
Der Historische Brutvogelatlas teilt das Mittelland in 128 Atlasquadrate. Nun wird in jedem Quadrat erforscht, ob darin eine bestimmte Vogelart brütet.
Die Beobachtungen im Mitteland ergaben die folgenden Brutpaarzählungen für die erwähnten Vogelarten (Bitte klicken Sie auf die Tabelle):

tabelle1

Raucht der Kopf vor lauter Zahlen? Hören Sie sich auf www.vogelwarte.ch die Stimme des Zaunkönigs an mit ihrem hübschen Triller in der Mitte des Gesangs.

Ausblick nach Ost-Südost

Jetzt, Ende September 2011, geht der Blick aus unserer Siedlung „Im Eschberg“ auf eine Baustelle ännet dem Berenbach. Dabei stelle ich leicht erstaunt fest, dass auch im 21. Jahrhundert beim Häuserbau der meiste Lärm durch Hämmern entsteht: Schalenwände werden in ihre korrekte Position gehämmert, Schalenbretter werden zurecht gesägt und dann per Hammer in die richtige Lage gebracht, metallene Riegel und Klappen werden mit Hammerschlag bewegt, sodass der Beton quasi aus der Luft schwebend vom Kran zwischen die Schalenwände fliessen kann. Überhaupt gibt es da jede Menge Handarbeit in unserer hoch technisierten Welt. Andererseits muss der Baggerführer seine Kabine nicht verlassen, um eine andere Schaufel an seiner Maschine anzubringen, und der Lastwagenchauffeur bleibt sitzen, wenn er Auffüllmaterial (Humus?) ablädt; ist die Ladung weg, schliesst sich die Klappe automatisch, und der Zigarren rauchende Lenker fährt wieder weg. Bereits wartet sein Kollege mit dem nächsten vollen Laster; er vertreibt sich die Zeit hinter dem Steuer an seinem Handy, auch er rauchend. Die vorüberradelnde, etwas dürre Velofahrerin sagt indigniert: „Der würde sich auch besser ein bisschen bewegen!“ Na, er ist wirklich nicht der Dünnste, doch wirkt er sehr zufrieden.
Noch im Februar 2010 präsentierte sich die Aussicht aus unserem Garten so:
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Dann aber ging’s los. Und so sah’s im frühen Sommer 2011 aus:
Neubauten2
Und jetzt, Ende September, sind bereits einige Keller aufgemauert, an den Parterres wird gearbeitet, die Holzsäge pfeift, die Hammer dröhnen, die Arbeiter rufen, singen, und manchmal fluchen sie auch – ein bisschen. Wir Zuhörer und Zuschauer geniessen’s.
Neubauten3

Erinnern Sie sich an Rilke?
„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“ Am Berenbach wird gebaut!

Wieder einmal ein bisschen Morgenstern …

… weil ich Christian Morgenstern heiss liebe. Nebst seinen Galgenliedern, unter denen es viele hat, die Jahrzehnte zum voraus Hugo Balls Dada vorweggenommen haben, hat er ja sehr ernsthafte Gedichte geschrieben und wichtige Theaterstücke, unter anderem von Ibsen, übersetzt.
Ich fahre über den Damm bei Rapperswil, Möwen fliegen vor mir hinüber zum Obersee, und ich rezitiere Morgensterns Möwenlied, im Stau stehend:

Die Möwen sehen alle aus,
als ob sie Emma hiessen.
Sie tragen einen weissen Flaus
und sind mit Schrot zu schiessen.
Ich schiesse keine Möwe tot,
ich lass sie lieber leben –
und füttre sie mit Roggenbrot
und rötlichen Zibeben.
O Mensch, du wirst nie nebenbei
der Möwe Flug erreichen.
Wofern du Emma heissest, sei
zufrieden, ihr zu gleichen.

Nicht aller Morgenstern kommt so mild-freundlich daher, vor allem nicht, wenn es Mitternacht schlägt:

Der Zwölf-Elf
Der Zwölf-Elf hebt die linke Hand:
Da schlägt es Mitternacht im Land.
Es lauscht der Teich mit offnem Mund.
Ganz leise heult der Schluchtenhund.
Die Dommel reckt sich auf im Rohr.
Der Moosfrosch lugt aus seinem Moor.
Der Schneck horcht auf in seinem Haus;
desgleichen die Kartoffelmaus.
Das Irrlicht selbst macht Halt und Rast
auf einem windgebrochnen Ast.
Sophie, die Maid, hat ein Gesicht:
Das Mondschaf geht zum Hochgericht.
Die Galgenbrüder wehn im Wind.
Im fernen Dorfe schreit ein Kind.
Zwei Maulwürf küssen sich zur Stund
als Neuvermählte auf den Mund.
Hingegen tief im finstern Wald
ein Nachtmahr seine Fäuste ballt:
Dieweil ein später Wanderstrumpf
sich nicht verlief in Teich und Sumpf.
Der Rabe Ralf ruft schaurig: „Kra!
Das End ist da! Das End ist da!“
Der Zwölf-Elf senkt die linke Hand:
Und wieder schläft das ganze Land.

Zitiert aus:
Christian Morgenstern.
Alle Galgenlieder.
Insel-Verlag. Wiesbaden 1947

Heute auch als Reclam Taschenbuch erhältlich.

Keine Erst August Rede

„Wir Schweizer“ – „Schweizer wählen SVP“ (?!) – feiern wieder den Geburtstag unseres Landes in Erinnerung an den sagenhaften Schwur der drei Eidgenossen anfangs August 1291 auf dem Rütli. Aus diesem Anlass schenkt uns unser Hausmetzger eine Cervelat. (Wie steht es eigentlich nachgerade mit den Häuten um Schweizer Würste? Man hört und liest so gar nichts mehr darüber.) In einer Sonntagszeitung macht Thomas Maissen darauf aufmerksam, dass die Geschichte damals wohl nicht ganz so abgelaufen sei, und der Heimatspiegel des Zürcher Oberländers berichtet über Hans von Hinwil, aus dessen Familie in der Schlacht bei Näfels einige gefallen sind – nicht auf Seiten der Eidgenossen! Wenn wir Zürcher Oberländer also feiern, so tun wir dies als ehemalige Ausländer. Die Cervelat schmeckt natürlich trotzdem.
Zu einer Feier gehört ja nebst dem freudvollen Lärm, den Raketen und Sonnenrädern (indianischen Ursprungs!) auch die Besinnlichkeit, das Nachdenken und vielleicht angesichts des Zustandes der Welt die Dankbarkeit darüber, das Glück gehabt zu haben, in dieser Zeit, in diesem Land geboren worden zu sein. Beim Nachdenken mögen drei Bücher wertvolle Hilfe und vergnügliche Inspiration schenken:
Thomas Maissen: Geschichte der Schweiz. Hier + Jetzt – Verlag Baden. Dritte Auflage 2010.
Roger Sablonier: Gründungszeit ohne Eidgenossen. Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300. Hier + Jetzt – Verlag Baden. 2008
Georg Kreis: Schweizer Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness. Verlag Neue Zürcher Zeitung. 2010
Auf Sabloniers Buch habe ich in den Lesetipps schon aufmerksam gemacht. Interessant und süffig sind Georg Kreis’ Erinnerungsorte. Es sind 26 kurze Essays über „Schweizerisches“ wie das Heidi, die Toblerone, das Bankgeheimnis, das Rütli, den Wilhelm Tell, die Rösti, das Soldatenmesser, usw. Immer enthalten sie viel Wissenswertes und nicht allgemein Bekanntes.
Aus dem Text über das Rütli: „Das doch recht grosse, insgesamt 62 230 Quadratmeter umfassende Rütli … hat seinerseits wiederum ein Zentrum: Die Stelle, wo die drei Eidgenossen geschworen haben und wo im Moment des Schwurs drei Quellen aus dem Boden getreten sein sollen. Diese Quellen wurden mehrfach umgestaltet und sind heute kaum mehr bekannt und darum entsprechend wenig beachtet. Es tut fast weh, zu sehen, wie an belebten Tagen Hunderte von Besuchern achtlos, weil uninformiert an dem Ort im Ort vorbeiströmen.“ Das Rütli kennt zwei moderne Geburtsmomente: „erstens der Moment, da das Drama von Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, wichtig wird, und zweitens der Moment, da das Rütli in Besitz des Schweizer Volkes übergeht.“ Zudem: „Als sich die Schweiz im Sommer 1940 nach Frankreichs Kapitulation für einen Moment in einer grossen Orientierungskrise befand, versammelte General Henri Guisan sein Offizierskader zum sogenannten Rütlirapport.“
Und so ganz nebenbei: Wie wäre es, wieder einmal die Nase in Schillers Tell zu stecken?
En Guete bim Cervelat-Brötle!!

Ännet em Berebach wird bout

Die neue Stichstrasse parallel zum Berenbach ist fertig. Am heissen Nachmittag des 13. Juli 2011 beobachten wir den Spatenstich unserer neuen Nachbarn. Mit dem Weisswein oder dem Prosecco oder dem Champagner flüchten die zukünftigen Hausbesitzer in den Schatten der grossen Erle und der Eschen am Berenbach. Einen Tag später werden diese Büsche und Bäume gerodet. Das geht doch recht brutal zu und her: Mit der Motorsäge gibt’s einen Schnitt in den Baum, dann drückt der Bagger die Erle oder Esche um. Und nach einem knappen halben Tag sieht das vordem überwachsene Ufer so aus:
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Auf dem Stumpf links im Bild pflegten zwei unserer Katzen, getarnt durch dichtes Gestrüpp, stundenlang zu schlafen.
Berenbach2
Nachmittags beginnt der Bagger auf dem ganzen Gelände die Humusschicht abzutragen, und eine Bohrmaschine bereitet die Pfählung vor. Es wird interessant sein, die Baufortschritte in den nächsten Monaten zu verfolgen.

Kirchen, Kathedralen und Dome

„Wo, um Himmels Willen, liegt dieses Athen?“ Fragt Atossa in Aischylos Tragödie „Die Perser“. „Where, the hell, is Dürnten?“ Fragt mein Freund Walter Ehrismann. Klar: Wo immer man lebt, man lebt in der Mitte der Welt. Dürnten ist der Nabel! Aber von Zeit zu Zeit meldet sich das Fernweh, und man begibt sich auf eine Reise. Wohin? Es gilt, Freunde in Berlin und in Hannover zu besuchen. Und wenn wir schon einmal so weit im Norden sind, weshalb schauen wir uns nicht wieder einmal die Kathedrale von Reims an und besuchen unterwegs den Dom zu Aachen? Daraus wird nun eine Reise der kirchlich-architektonischen Art. Denn wenn wir schon in Frankreich sind, so lockt doch auch, wie fast jedes Mal, die Abtei von Tournus. Tournus liefert denn auch den Vorwand, die Côte d’Or zu besuchen und den Kofferraum mit Grand Crus zu füllen.
Dürnten ist unser Lebensmittelpunkt, und hier steht natürlich auch eine Kirche mit einer sehr schönen Holzflachdecke. „Das älteste und schönste Gebäude der Gemeinde Dürnten ist zweifellos die Kirche von Dürnten. Sie wurde in spätgotischem Stil in den Jahren 1517-21 gebaut, also kurz vor der Reformation.“ So steht es auf der Homepage der Kirchgemeinde.
Älter, viel älter ist der Dom zu Aachen, die Krönungskirche der deutschen Könige seit Karl dem Grossen. [Die Sage berichtet übrigens, Karl der Grosse habe die erste weiterführende Schule in Zürich gegründet.] Um 800 wurde der Dom zu Aachen gebaut. In einem vergoldeten Schrein lagern hier die Gebeine Karls des Grossen, und sein Thron steht im Dom.
Die Abbay Saint-Philibert in Tournus ist etwa zweihundert Jahre jünger. Für mich ist das einer der schönsten und eindrücklichsten romanischen Räume, die ich kenne.
Tournus
Auf der Homepage aus Tournus lese ich: „Elle est la plus ancienne des grandes églises romanes de Bourgogne. La façade date du Xème et XIème siècles. L’intérieur est formé d’une pierre de couleur rose, magnifique dans son extrême simplicité.“ Und bin damit absolut einverstanden.
Wieder rund zweihundert Jahre später entsteht die gotische Kathedrale in Reims (Baubeginn 1211). Unglaublich, was diese frühen Baumeister zustande brachten! Rund um die Kathedrale sind bei unserem Besuch mittelalterliche Bauhütten aufgestellt und Steinmetze, Schreiner und Zimmerleute zeigen, wie im Mittelalter gebaut wurde. Scharen von Schulkindern schauen zu und dürfen mitarbeiten.
Reims
Auch zwischen Reims und Zürich gibt es eine Verbindung: Chagall hat für das Fraumünster und für Reims Fenster gestaltet.
Chagall
Und der Dom in Berlin, der so altehrwürdig aussieht? Er ist eigentlich „modern“, wurde er doch 1894 – 1905 auf Geheiss von Kaiser Wilhelm II. als repräsentative Kirche Preussens erbaut. Vom Touristenboot auf der Spree aus fotografiert, ergibt sich ein hübscher Gegensatz zwischen einem wirklich modernen und einem historisierenden Bau.
Berlin und so weiter 2011 045
Kirchen in Aachen, Tournus, Reims und Berlin haben wir bewundert und in Beaune die Hospices de Beaune und in Troyes, nebenbei gesagt, neben der Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern aus dem 16. Jahrhundert in der hypermodernen Multimediathek eine sehenswerte Ausstellung über Chrétien de Troyes angetroffen, der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Vorlage geschrieben hat zu den Geschichten um König Artus und den Gral, zum Parzival des Wolfram von Eschenbach: Perceval le Gallois ou li contes del Graal. – und bei alledem haben wir in der Champagne einen feinen Champagner getrunken und in Vosne Romanée einen schönen Burgunder.
Jetzt hat uns Dürnten wieder!

Ein Gedicht und zwei Sprüche. Auch eine Reiseerzählung

Wer sich auf der Autobahn Berlin nähert, erfährt durch ein Hinweisschild, er befahre nun das Havelland und siehe da – plötzlich taucht die Tafel auf und verschwindet rasch wieder: Schloss Ribbeck.

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland und sein Birnbaum, sein Misstrauen gegenüber dem Sohn und seine Zuneigung zu Knaben und Mädchen über den Tod hinaus.

Und kommt ein Jung’ übern Kirchhof her,
So flüstert’s im Baume: „Wiste ’ne Beer?“
Und kommt ein Mädel, so flüstert’s „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew Di ’ne Birn.“

So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.

Theodor Fontane, der Apotheker und Schriftsteller in Berlin hat dieses Gedicht 1889 geschrieben. Ebenso bekannt dürfte auch sein John Maynard aus dem Jahr 1885 sein. [Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland ist nachzulesen in Deutsche Gedichte. Reihe Reclam. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2006]

In der alten Nationalgalerie in Berlin sahen wir ein riesiges Triptichon – ich weiss nicht mehr von wem und aus welcher Zeit. Wir waren etwa drei Stunden in diesem grossartigen Museum, gewidmet „Der deutschen Kunst“, das eine hervorragende Sammlung französischer Impressionisten wie Manet und Monet enthält. In Erinnerung geblieben sind mir zwei kleine Spitzweg-Bilder mit winzigen, hageren Figürchen, ein sehr schöner Segantini und die unterste linke Ecke des linken Flügels eben dieses Triptichons. Da sitzt ein blonder Knabe, gekleidet wie ein kleiner Erwachsener und hält an einer feinen Kette ein Äffchen. Das sitzt ihm auf den Knien und laust des Knaben lockiges Haar: „Mich laust der Affe!“

In Aachen führte uns ein Lehramtsstudent mit den Hauptfächern Geschichte und Englisch durch den Dom. Er hatte einige Jahre an der Restauration dieses uralten Baus mitgearbeitet. Seine Erläuterungen und Kommentare waren prägnant und oft witzig. Der überaus simpel aus Marmorplatten aus dem Mittelmeerraum zusammengesetzte Königsthron – für uns heutige Touristen ein enttäuschender Anblick – sei eben gerade nicht der Thron Karl des Grossen. Der Thron gehöre einem Höheren. Und wenn sich der Kaiser auf ihn setzen wollte, hatte er die Erlaubnis Gottes in rituellem Gebet zu erflehen. Im Chorgestühl erklärte der Student, wie es für Mönche oft anstrengend gewesen sei, die für die Liturgie vorgeschriebene Stellung lange einzuhalten, weshalb man sich so halb halb auf die halb erhobene Klappe des Chorstuhles setzte. Diese Klappe drohte aber immer wieder mit lautem Knall herunter zu fallen, weshalb der Nachbar die Aufforderung zischte: „Halt die Klappe!“

Winter ade oder Alles fahrt Ski

Klosters, das erinnert mich an Skilager und Ferienkolonien in meiner Primar- und Sekundarschulzeit. Die Schulgemeinde Dietikon besass in Klosters das Wyerhus, ganz eingangs Dorf, sodass wir Jugendliche in den klobigen und schweren Schuhen unsere Holzskier doch recht weit bis zur Bahn tragen mussten. War es in der sechsten Klasse in der sommerlichen Ferienkolonie oder im Skilager der ersten Sekundarklasse? Eines Nachts überfielen etwas ältere, hübsche Mädchen in Nachthemden uns Knaben und verküssten uns. Es waren meine ersten Küsse überhaupt. Bevor ich das richtig verstand und mich darob freuen konnte, stürmten die Lehrer unsere Knabenbude und fuhren schreiend dazwischen. Das Vergnügen fand sein Ende, bevor es richtig hatte beginnen können.

Vom Wyerhus aus sah man direkt auf die Linie der Rhätischen Bahn, die dort eine S-Schlaufe in die Landschaft legt. Wir schlossen jeweils Wetten ab, ob der herannahende Zug lang genug sei, um ein rotes S zu zeichnen.

Später lockte jeden Winter die Parsenn als Inbegriff eines fantastischen Skigebiets. Trotz enorm langen Wartezeiten in Klosters oder in Davos fuhr ich mit dem Vater mehrere Sonntage hin und genoss die überaus lange Abfahrt bis nach Küblis. In der Erinnerung erscheinen allerdings auch jene Sonntage in vergoldetem Licht, an denen wir bei mehrmaligem Umsteigen mit der SBB aus dem Limmatttal nach Wald fuhren, von dort hinauf auf den Farner und abends auf Skiern bis ganz hinunter nach Wald. Kamen wir dann in Dietikon nach Hause, war das Haus unfreundlich und kalt, und wir beeilten uns jeweils gewaltig, den Ofen in der Küche anzufeuern, dem Kachelofen in der Stube damit wieder Wärme einhauchend. Eingeläutet wurden solche schönen Wochenenden mit dem Schneebericht der SBB freitags über Mittag. Während wir Käsewähen und nachher Fruchtwähen assen – der Freitag war immer fleischlos – las ein Sprecher in ernstem Tonfall den Schneebericht: Flums Nassschnee gut, Schwarzsee La Berra Piste Pulver fahrbar, Davos Parsenn Pulver sehr gut. Käseduft und die Vorfreude auf ein Schneewochenende paaren sich untrennbar in meiner Erinnerung. Hiess es Pulver gut, wurden am Freitagabend die Skier mit Skigliss präpariert – auch diesen Geruch werde ich nie mehr vergessen. Den Schneebericht gibt es nicht mehr, genau so wie den Briefkastenonkel oder das Wunschkonzert von Radio Beromünster. Aber Käsewähen schmecken immer noch hervorragend.

 

Wassermänner haben Geburtstag

Viele in unserer Familie sind Wassermänner. Und als solche sind wir also „originell, vorurteilslos, eigenwillig, individualistisch, erfinderisch, fortschrittlich, reformerisch, unkonventionell, exzentrisch, freiheitsliebend, unverbindlich, unabhängig, sozial gesinnt, gesellig und gute Teamplayer“ wie es in einem astrologischen Text heisst. Na ja, Stiere haben wir auch, und die sind nicht weniger interessant: „’Nur immer mit der Ruhe’, sagt bedächtig der Stiermensch, ‚Wer langsam reift kommt grad so weit.’ Der Stier überstürzt die Dinge nicht, zuerst muss alles gründlich überlegt werden. Er ist zäh, ausdauernd und arbeitet bedacht an seinen Zielen.“ Ob es astrologische Texte zu Widder oder Fischen oder Zwillingen gibt, die weniger euphorisch klingen?
Wassermänner haben dieser Tage Geburtstag– also von Ende Januar bis fast Ende Februar. Und so erhalten wir denn Gratulationen von Söhnen, Töchtern, Freundinnen und Freunden von hier und von dort. Einer dieser Freunde schrieb aus Frankreich und zitierte zwei Zeilen eines Chansons von Georges Brassens:
Une jolie fleur dans une peau de vache
Une jolie vache déguisée en fleur
Die Melodie dieses Liedes habe ich noch im Kopf – aber den Text des ganzen Liedes? Im Büchergestell fand ich „Georges Brassens par Alphonse Bonnafé“, Poésie et Chansons, Paris, 1963. Und darin auch den Text dieses Liedes, der, wie so oft bei Brassens, schliesslich eher traurig-düster-melancholisch und eigentlich halt auch ein bisschen machohaft ist. Aber schön sind diese Chansons eben wirklich. Etwa die Schmetterlingsjagd:

La chasse aux papillons
Un bon petit diable à la fleur de l’âge,
La jambe légère et l’œil polisson,
Et la bouche plein’ de joyeux ramages,
Allait à la chasse aux papillons.

Comme il atteignait l’orée du village,
Filant sa quenouille il vit Cendrillon.
Il lui dit : « Bonjour, que Dieu te ménage »,
J’ t’emmène à la chasse aux papillons.

Cendrillon ravie de quitter sa cage,
Met sa robe neuve et ses bottillons ;
Et bras d’suss bras d’ssous vers les frais bocages
Ils vont à la chasse aux papillons.

Ils ne savaient pas que sous les ombrages
Se cachait l’amour et son aiguillon ;
Et qu’il transperçait les cœurs de leur âge,
Les cœurs des chasseurs de papillons.

Quand il se fit entendre, ell’ lui dit j’ présage
Qu’ c’est pas dans les plis de mon cotillon
Ni dans l’échancrure de mon corsage,
Qu’on va t’à la chasse aux papillons.

Aber auch dieses hübsche Lied endet mit zwei nachdenklichen und eher verzweifelten Versen, évoquant „les nuages, porteurs de chagrins“.
Wir aber lassen uns nicht unterkriegen, suchen die CD mit den Brassens-Chansons, ergeben uns der nostalgischen Melancholie „du petit cheval blanc“ und starten zuversichtlich ins neue Lebensjahr.