Alter, feiner Martini zu fein ziselierter Einleitung

 

Wir sind begeisterte Besucher von Werner Morlangs Spätabendvorstellungen im Schauspielhaus am Pfauen. Einmal standen sie unter dem Titel „Nachtmahr-Abtei“, ein ander Mal nannten sie sich „Série-Noire“ oder „Erotische Kammer“, später „Fantastische Fahrten“ und dieses Jahr „Literarisches Nachtcafé“. Als eine mir sehr angenehme Beigabe dieser Abende spendiert die Firma GlenFahrn jeweils jedem Zuhörer ein Glas feinsten Whiskys oder einen Cognac oder anderes flüssig Feingeistiges, sodass man heiter in angenehmster Stimmung Literarisches unterhaltsam dargebracht geniessen kann. Werner Morlang verliest jeweils eine selbst verfasste, kurze, prägnante Vita eines Schriftstellers, wonach Schauspieler des Schauspielhauses Passagen aus dessen Werken lesen. So lernte ich beispielsweise den mir unbekannten Wilkie Collins mit „Die Frau in Weiss“ kennen, erfuhr viel für mich Neues über Joseph Conrad und genoss Szenen aus Chandlers „The big Sleep“.

Letzthin nun präsentierte Morlang nebst anderen Gästen von Wiener Caféhäusern den Theaterkritiker, Schauspieler, Dramaturg, Conférencier, Feuilletonist und Schriftsteller Egon Friedell, der am 16. März 1938, als zwei SS-Männer in seine Wohnung eindrangen, sich aus dem Fenster im vierten Stock in den Tod stürzte und dabei – so will es die Sage – einen Passanten auf dem Trottoir mit „Obacht!“ warnte.

Egon Friedell ist berühmt durch seine zwischen 1927 und 1931 erschienene „Kulturgeschichte der Neuzeit“. Sie ist als Diogenes Taschenbuch mit gut 1700 Seiten greifbar. Die Einleitung enthält nebst heute noch gültigen Überlegungen zur Geschichtsschreibung einige recht träfe Formulierungen zur Problematik des Plagiates.

Erinnern Sie sich? An die deutsche Bildungsministerin oder die Zürcher FDP-Politikerin? Das Thema ist brandaktuell.

Aber Egon Friedell, der im Übrigen sowieso nicht viel bis gar nichts vom universitären oder professoralen Wissenschaftsbetrieb hält, schlägt da unerwartete Töne an: „Was nun zum Schluss noch die Frage des Plagiats anlangt, so ist das Geschrei über geistige Entwendungen eines der überflüssigsten Geschäfte von der Welt. … Es lässt sich bezweifeln, ob der Proudhonsche Satz „La propriété c’est le vol“ auf wirtschaftlichem Gebiet so ganz richtig ist; auf geistigem Gebiet gilt er aber zweifellos. Denn, genau genommen, besteht die ganze Weltliteratur aus lauter Plagiaten. … Die ganze Geistesgeschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Diebstählen. Alexander bestielt Philipp, Augustinus bestielt Paulus, Giotto bestielt Cimabue, Schiller bestielt Shakespeare, Schopenhauer bestielt Kant. Und wenn einmal eine Stagnation eintritt, so liegt der Grund immer darin, dass zu wenig gestohlen wird.“ Friedell beschliesst seine Ausführungen zum Plagiat mit dem Satz: „Woraus erhellt, dass man selbst über Plagiate nichts anderes sagen kann als Plagiate.“ – Und ich frage mich manchmal in stiller Stunde: Hast du wenigstens einmal einen wirklich neuen Gedanken gedacht, etwas, das noch nie zuvor da war? Wohl kaum!

Ah! A propos: GlenFahrn spendierte diesmal feinsten Apéritif! Ich aber wende mich nun nach Friedells Einleitung seiner eigentlichen Kulturgeschichte und damit dem Hauptgang zu.

Les jours s’en vont je demeure

Ein Treffen unter Freunden, etwa alle zwei Monate. Alle vier sind wir pensioniert, sind etwa gleich alt, haben im Beruf vieles gemeinsam erlebt, plaudern uns deshalb oft in die Vergangenheit zurück, was uns hie und da angesichts des aktuellen rauen Klimas in der Welt, angesichts der Kriege in Syrien, am Schwarzen Meer, angesichts der Globalisierung und der ängstlich wirkenden schweizerischen Politik doch recht melancholisch stimmt. [Wir jammern da aber auf sehr hohem Niveau, pflegen wir dann zu sagen.] Wie ganz anders – im Rückblick – war da die Aufbruchstimmung in den späten Fünfziger, den frühen Sechziger Jahren im Zeichen des Wirtschaftswunders: „Es geht besser, besser, besser, immer besser“, sang Caterina Valente. Und doch, plötzlich kommt mir wieder in den Sinn, wie wir jungen Burschen in der schönen Traurigkeit vieler französischer Gedichte schwelgten, die so grandios sentimental fatalistisch waren. Wenn sie dann noch von Juliette Gréco gesungen wurden! „Le trésor de la Poésie Française“, diese Sammlung von Gedichten, die wir in der Schule lasen, enthielt auch das berühmte Lied von Guillaume Apollinaire „Le Pont Mirabeau“:

Sous le pont Mirabeau coule la Seine
Et nos amours
Faut-il qu’il m’en souvienne
La joie venait toujours après la peine

Vienne la nuit sonne l’heure
Les jours s’en vont je demeure

Les mains dans les mains restons face à face
Tandis que sous
Le pont de nos bras passe
Des éternels regards l’onde si lasse

Vienne la nuit sonne l’heure
Les jours s’en vont je demeure

L’amour s’en va comme cette eau courante
L’amour s’en va
Comme la vie est lente
Et comme l’Espérance est violente

Vienne la nuit sonne l’heure
Les jours s’en vont je demeure

Passent les jours et passent les semaines
Ni temps passé
Ni les amours reviennent
Sous le pont Mirabeau coule la Seine

Vienne la nuit sonne l’heure
Les jours s’en vont je demeure

Eine einzige Zeile bloss enthält einen Hoffnungsschimmer: La joie venait toujours après la peine. Und dann sang Siggi Schwientek auf der Pfauenbühne in Frischs « Mein Name sei Gantenbein » das Piaf-Lied « Je ne regrette rien ».

In Zeiten, die nachdenklich stimmen, tauchen plötzlich die alten Lieder wieder auf !

 

Zeitreisen der einfachen Art

Wir Eschbergler sind ja alles andere als alteingesessene Dürntner, sind frisch Zugezogene, wohnen in Dürnten erst seit Oktober 2006. Im Jahr darauf richtete die reformierte Kirchgemeinde einen Gottesdienst für Neuzuzüger aus. Mit uns beiden erschienen dann allerdings nur ein halbes Dutzend Frischlinge! Seither wird munter weiter gebaut, die Bubikonerstrasse beispielweise wurde verlängert, und unsere „Nachbarn ännet em Bach“ zogen ein.

Wie in Dürnten, so in Bubikon oder Hinwil, Wetzikon, Rüti – in der ganzen Schweiz, will mir scheinen, wird gebaut, wird neu zugezogen, verändern die Dörfer ihre Gesichter. Wie sich das in Kartenwerken darstellt, lässt sich sehr schön in www.swisstopo.ch verfolgen. Hier kann man sich eine Ortschaft aussuchen und eine Zeitreise ab 1844 bis 2012 mit verfolgen. Gezeigt werden die Dufourkarten von 1844 bis 1939, die Siegfriedkarten von 1870 bis 1949 und die Landeskarten von 1938 bis heute.

Deutlicher sichtbar als in Dürnten beim Rothus, wo zwar die Bezeichnungen des Isengrind und Eschberg sowie des Bähren- oder Behren oder Berenbach ändern, sind allerdings die Veränderungen in Dietikon, wo ich aufgewachsen bin: Die mäandernde Limmat wird massiv begradigt, das Flugfeld zwischen Dietikon und Spreitenbach weicht dem riesigen Güterbahnhof, und die alte Bezeichnung Glanzenberg, wo einst – sehr viel früher – eine Burg stand, verschwindet zwischenzeitlich und taucht erst in unserer Zeit wieder mit einem S-Bahnhof Glanzenberg auf. Und „meine“ Siedlung im Hofacher? Sie steht noch, ist aber umzingelt von grossen, modernen Wohnquartieren.

Suchen Sie doch ihren Jugendort und starten Sie eine Zeitreise von 1844 bis 2012. Viel Vergnügen!

Die „Brockhaus-Enzyklopädie“ verschwindet

Die Brockhaus-Ausgabe 2006 bleibt die Letzte! Die dreissig „in schwarzes Leder eingebundenen Wälzer, auf deren Rücken goldfarbene Lettern prangen“[1] enthalten 300 000 Artikel. Aber die deutschsprachige WikipediA kommt auf über eineinhalb Millionen, die erst noch gratis einzusehen sind.

Unsere Kursleiterin, eine Kunsthistorikerin, verteilt die Kursunterlagen: Es handelt sich um Outprints aus WikipediA.

Christian, mein Freund, macht mich auf ein Buch eines Neunzehnjährigen aufmerksam: Philipp Riederle. Wer wir sind und was wir wollen. Ein Digital Native erklärt seine Generation[2]. Denn wir „Immigrants“, die wir höchstens mal ein bisschen surfen oder mailen, sonst aber an Radio und Fernsehen, gedruckten Tageszeitungen, Automobilen, also an der alten Welt festhalten, wissen wirklich nicht, was sie tun, die Digital Natives. Sie leben, schreibt Riederle, in einer „verflüssigten“ Welt. Sie suchen nicht, sie finden. Sie schwimmen Freistil – was ein bisschen nach Feyerabends „anything goes“ tönt – und fragen: Führerschein – who cares?

Im Literaturzirkel diskutieren wir, in welchem Mass E-Reader und E-Book das Lesen wohl verändern (werden). „Welche drei Bücher würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?“ Das ist eine hoffnungslos veraltete Frage, heute, wo auf einem iPad eine ganze Bibliothek Platz findet.

Die Brockhaus-Enzyklopädie verschwindet, die Encyclopaedia Britannica gibt es auch nicht mehr gedruckt; geht das Abendland einmal mehr unter? Nein, wieso? Unser Enkel ist zurzeit absoluter Dinosaurierfan. „Ich werde einmal …“ Wie heisst schon wieder jene Wissenschaft, die sich mit Dinos auskennt? Archäologie oder Paläontologie? WikipediA:

„Die Paläontologie (gr. παλαιός palaiós „alt“; ōn, Genitiv óntos, „Seiendes“; -logie) ist die Wissenschaft von den Lebewesen vergangener Erdzeitalter (z. B. Kreidezeit). Gegenstand paläontologischer Forschung sind Fossilien (lat. fossilis „ausgegraben“), das heißt in Sedimentgesteinen vorkommende Organismenreste und sonstige Hinweise auf vorzeitliche Lebewesen.“

Gleich sieben Pisten eröffnen sich hier für weiteren Wissenserwerb oder weitere Wissenssicherung. Ich muss zugeben, dass bei mir zuhause kein Brockhaus steht; ich kann also nicht beurteilen, ob die gedruckte Enzyklopädie hilfreicher und zuverlässiger wäre als „Herr WikipediA“, wie kürzlich ein Prof frotzelte. Ach so: Archäologie?

„Die Archäologie interessiert sich ausschließlich für den Menschen [und nicht für Dinos!] und seine materiellen Hinterlassenschaften, wie etwa Gebäude, Werkzeuge und Kunstwerke. Sie umfasst einen Zeitraum von den ersten Steinwerkzeugen vor etwa 2,5 Millionen Jahren bis in die nähere Gegenwart. Erkenntnisse zu Umwelt, Klima, Ernährung oder zum Alter von Funden tragen zur Rekonstruktion vergangener Kulturen bei.“

Beim Stichwort „Archäologie“ kommt mir in den Sinn, dass ich auf dieser Homepage unbedingt Reklame machen wollte für ein sehr schönes Buch von Alex Capus: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenleger. Carl Hanser Verlag. München. 2013. Es gibt das Buch gedruckt und als E-Book.



[1] NZZ vom 6. Januar 2014. S.36

[2] Knaur Taschenbuch. München. 2013