Unser touristisches Zeitalter

Venedig, Barcelona und viele andere Städte leiden immer stärker unter den massiv zunehmenden Touristenströmen. Marco d’Eramo stellt in seinem Buch «Die Welt im Selfie» fest, dass der Tourismus zur stärksten Industrie unserer Zeit geworden ist. Tourismusarten gibt es mittlerweile zu Hauf. Eine der modernsten ist der Sterbetourismus, laut d’Eramo erstmals 1999 so bezeichnet von der Staatsanwaltschaft Zürich.


D’Eramo analysiert die Wirkung, welche der Titel «UNESCO-Weltkulturerbe» auf die Stadtentwicklung hat: Die Städte sterben! Was einst von Leben durchdrungen war, wird museal. Die Einwohner werden vertrieben, was zurückbleibt, dient den Touristen und gleicht sich überall auf der Welt. Die Bauten werden zu Tode restauriert, und d’Eramo zitiert Ruskin: «Es ist ganz unmöglich, so unmöglich wie die Toten zu erwecken, irgend etwas wiederherzustellen, das jemals gross oder schön in der Baukunst gewesen ist.» Und bezeichnet ihn als «Ruinenfundamentalisten». Er lässt aber auch die gegenteilige Position zu Wort kommen, indem er Viollet-le-Duc zitiert: «Ein Bauwerk zu restaurieren heisst nicht, es in gutem Zustand zu halten, es zu reparieren oder neu zu machen, sondern es wieder in einen Zustand der Vollkommenheit zu setzen, den es möglicherweise zu keinem Zeitpunkt je gegeben hat.»

In einer Vorlesung im Jahr 2012 erklärte Valentin Groebner von der Uni Luzern: «Im 19. Jahrhundert gehen langsam die mittelalterlichen Ruinen aus! Deshalb wird das Mittelalter jetzt neu gebaut (1860 – 1930). Was wir heute sehen, ist meist 19. Jahrhundert, nicht 13. oder 15. Spalentor in Basel, Fassade des Münsters in Basel. Die Mauern von Carcassonne 1870! Mussolini liess die Türme in San Gimignano dreimal zu hoch wieder aufbauen! Der Tourismus gibt den Gebrauch der Geschichte vor. Beispiel: Die Sainte Chappelle, erbaut im 13. Jahrhundert, abgebrannt im 17. und als Steinbruch während der französischen Revolution verwendet, wird im 19. Jahrhundert von Viollet-le-Duc (er macht das Mittelalter farbig) wieder aufgebaut und nach 1945 von Mitterrand so ergänzt, dass massive Touristenströme durchgelotst werden können.» [Notizen WHe]


Patrick Modiano, porteur du prix Nobel de littérature en 2014 vient de publier un nouveau « roman » qui fête la mémoire :
« Souvenirs dormants ». La passion de Modiano est le souvenir. « Vous en avez de la mémoire … » Oui, beaucoup ! L’auteur traverse Paris de tout côtés, en métro, à pied, seul ou en compagnie de femmes. Pas aujourd’hui, mais dans sa mémoire pour ainsi dire. C’est le Paris des années soixante : « Il me semble aussi qu’au cours de ces années 1963, 1964, le vieux monde retenait une dernière fois son souffle avant de s’écrouler, comme toutes ces maisons et tous ces immeubles des faubourgs et de la périphérie que l’on s’apprêtait à détruire. » (Ou – dans le centre – de les restaurer, oserais-je dire.) Karin et moi, nous nous sommes fiancés à Paris en 1966 lors de mes « études » à l’Alliance Française. Or, nous aussi, nous connaissions encore ce « vieux Paris » de « Souvenirs Dormants » de Modiano qui n’est que quelques années plus jeune que nous.

Unsere Reisen in jungen Jahren fanden zu einer Zeit statt, als der Tourismus noch nicht zur wichtigsten Industrie geworden war, als wir Venedig in aller Ruhe geniessen konnten, als Barcelona «noch lebte» – wenn auch unter dem Gaudillo!

Modiano bleibt nicht im Schwelgen der guten alten Zeit stehen. Er schreibt den tröstlichen Satz: A mesure que passent les années, vous finissez sans doute par vous débarrasser de tous les poids que vous traîniez derrière vous, et de tous les remords.

Patrick Modiano: Souvenirs Dormants. Gallimard. 2017
Marco d’Eramo: Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters. Suhrkamp. 2018

Salopp und träf – Formeln, die sich mir einprägten

I don’t like Ike.                           Geschichtslehrer am Semi Küsnacht

Dwight D. Eisenhower, der General aus dem zweiten Weltkrieg, wurde zum Präsidenten der USA gewählt (1953 – 1961). Im Wahlkampf gab es „I-Like-Ike“-Clubs, die stark zum Wahlerfolg beitrugen. Unser Geschichtslehrer am Seminar Küsnacht schrieb an die Tafel «I don’t like Ike.» Eine Kriegsgurgel sei kein Politiker, monierte er. Nach der Suezkrise und dem Ungarnaufstand (1956) ist dies meine erste politische Erinnerung. – Abgesehen von den sonntäglichen Spaziergängen des Knaben mit dem Vater zur Wahlurne. Sehr viel später kam dann das Feldschiessen, der Sohn mit dem Sturmgewehr, der Vater mit dem Karabiner – auch eine Art politisches Statement. Wer besser getroffen hat, der ehemalige Kanonier im Aktivdienst oder der frisch gebackene Korporal, weiss ich nicht mehr.

Ich bin ein Berliner.                    John F. Kennedy

Und dann kam Kennedy, für den wir Jungen alle schwärmten. Als Karin und ich an der Jungbürgerfeier in der Turnhalle Dietikon feierten, erreichte uns die Nachricht von Kennedys Ermordung – und alles stob auseinander und ans Radio nach Hause! (1963)

I have a Dream.                    Martin Luther King

Am 28. August 1963, gegen den Schluss seiner Rede vor dem Lincoln Memorial rief Mahalia Jackson Martin Luther King leise zu: „Erzähl ihnen von dem Traum, Martin.“ [zitiert nach Harry Belafonte: My song.]

Yes we can!                                 Barack Obama

Von Barack Obama 2009 während des Wahlkampfs ausgerufen, wurde der Spruch zu seinem Wahlslogan. Ein Satz voller Selbstsicherheit, voller Zuversicht und Hoffnung, jedoch ohne die gehässige Überheblichkeit eines Trump. Meine Generation erinnert sich dabei an Kennedy.

America first                                Donald Trump

Damit bin ich beim Spruch des amtierenden Präsidenten angelangt. Was für ein Gefälle zwischen Kennedy / Obama und Trump! Gerne erinnere ich hier an einen Ausruf Harry Belafontes: „Where is the voice of Black America?“

Das schaffen wir!                        Angela Merkel

Der Satz der Willkommenskultur, der so sehr an Obamas Yes we can erinnert. Tempi passati!

Achtung Europa!                         Thomas Mann, 1936

«Der folgende Text basiert auf einem Vortrag im Ungarischen Theater in Budapest. Er entstand unter Mithilfe von Gattin Katia Mann und wurde explizit für den Pester Lloyd autorisiert. Ein wütender Protest der Deutschen Gesandtschaft konnte die Veröffentlichung nicht verhindern, brachte aber die Redakteure auf die schwarze Liste des Reichspropagandaministeriums.

Einer der führenden Denker Europas, zugleich einer der letzten „guten Europäer“, der Nobelpreisträger Thomas Mann, ruft auf diesen Seiten zur Rettung der bedrohten Kultur auf.
‚Es ist nicht mehr als loyal vorauszuschicken, daß der Verfasser dieser Zeilen im Beginn des siebenten Jahrzehnts seines Lebens steht. Altersverstimmung gegen die Zeit mag eine in dem Grade gesetzmäßige Erscheinung sein, daß sechzig und mehr Jahre die Meinungen eines Mannes über „das Neue“, den Zustand der Welt, in den hineinzuleben ihm bestimmt war, einigermaßen entwerten. Dennoch werde ich nicht auf viel Widerspruch stoßen bei der Behauptung, daß man nicht unbedingt sechzig sein muß, um die gegenwärtige Verfassung Europas grauenhaft zu finden.’» [Aus dem Archiv des Pester Lloyd.]

Thomas Mann spricht mir Fünfundsiebzigjährigen hier aus dem Herzen. Und ich erinnere mich an den Schlusssatz an einem Stammtisch diesen Sommer: «Europa ist in der Scheisse.»

Ach Europa!                                 Hans Magnus Enzensberger

Der erste Satz in Enzensbergers Buch mit «Wahrnehmungen aus sieben Ländern» lautet: «’Ganz egal für wen wir stimmen, und was dabei herauskommt: Sozialdemokraten sind wir doch alle’, sagte der Herr in der abgetragenen Tweedjacke und prostete mir mit einem Wasserglas voll Rotwein zu.» [Das war 1982 anlässlich der Wahl von Olaf Palme. 2018 waren wieder Wahlen, und die Sozialdemokraten haben beträchtlich an Stimmen eingebüsst! Nicht nur in Amerika leidet die Sozialdemokratie, wie Tony Judt klagte, sondern auch in Europa.] Enzensbergers Titel ist wohl aktueller denn je.

Freude herrscht!                         Adolf Ogi

Wir wissen es: Ein Schweizer flog ins All – allerdings nicht von Kloten aus. Andere knackige Sprüche von Schweizer Politikern fallen mir derzeit nicht ein, es sei denn, ich würde Ueli Maurers «Das Rütli ist einfach eine Wiese voller Kuhdreck» zitieren.

Harry Belafonte: My Song. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012
Thomas Mann: Achtung Europa! (1935) in Essays Band 4, herausgegeben von Hermann Kurzke & Stephan Stachorski, Frankfurt a.M. 1995
Hans Magnus Enzensberger: Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Suhrkamp Verlag. 1987
Tony Judt: Nachdenken über das 20. Jahrhundert. München 2013

 

Heisser Sommer und alte Lieder

Es ist sehr heiss. Es ist sehr trocken. Es drohe ein Sommer wie 1540, sagen die Wetter- und Klimaexperten. Zwischen Februar und dem 29. September 1540 habe es keinen Tag oder keine Nacht geregnet, hielt der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger fest. [Christian Pfister in der NZZ am Sonntag vom 5.8.18]

Wir verkriechen uns ins einigermassen kühle Innere und kommen erst spät abends vor das Haus. Und der Geist ist träge und angesichts des braunen Rasens, der hohen Temperatur, des fehlenden, kühlenden Nass erinnert er sich müde an Schlagertexte aus der Jugendzeit:

Am tag als der regen kam
Lang ersehnt heiß erfleht
Auf die glühenden felder
Auf die durstigen wälder

Das war Dalida im ebenfalls recht heissen Sommer 1957. Im Original sang Gilbert Bécaud eher von der Liebe als vom Wetter: Le jour où la pluie viendra

Le jour où la pluie viendra
Nous serons, toi et moi
Les plus riches du monde
Les plus riches du monde
Les arbres, pleurant de joie
Offriront dans leurs bras
Les plus beaux fruits du monde

Eigentlich ist es ja ungewöhnlich und unerwartet und toll, dass wir im Zürcher Oberland Tag für Tag mit grosser Sicherheit davon ausgehen können, dass auch morgen die Sonne scheinen wird, und wir müssten einstimmen in Harry Belafontes Calypso-Lied:

Down the way where the nights are gay
And the sun shines daily on the mountain top
I took a trip on a sailing ship
And when I reached Jamaica I made a stop

Down at the market you can hear
Ladies cry out while on their heads they bear
Ackey rice, salt fish are nice
And the rum is fine any time of year

[Solch feinen Rum habe ich vor wenigen Tagen aus der Karibik erhalten: grossartig, und herzlichen Dank, Yanilka!]

Harry Belafonte: Jamaica Farewell

Aber eben: 1540 droht, und das ist alles andere als fröhlich. Immerhin, wie es gegen Mitternacht geht, verstummt die Armada der Jets, die mit blinkenden Positionslichtern und grellen Scheinwerfern Urlauber nach Kloten zurück bringen, und langsam setzen sich Sterne gegen all das moderne Zivilisationsstreulicht durch, jedenfalls einige, sodass mir ein altes Kinderlied in den Sinn kommt:

Weisst du wieviel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?

Gott, der Herr, hat sie gezählet,
daß ihm auch nicht eines fehlet,
an der ganzen großen Zahl.

Was ist das denn? Matthias Claudius? Mörike? Eichendorff? Nein! Es stammt aus dem Jahr 1837 von Wilhelm Hey. Von ihm ist auch der Text des Lieds „Wer hat die Blumen nur erdacht“.

19. Jahrhundert. Der Mann muss Milliarden von Sternen am Himmel gesehen haben. (Da fällt mir ein, dass Dieter Kühn erzählt, wie die Vögel in früheren Jahrhunderten im Frühjahr jeweils einen „ohrenbetäubenden Lärm“ verursacht hätten. Und heute??) Ich sehe noch knapp den grossen Wagen. Sein Glaube an den allmächtigen Gott muss sehr gross gewesen sein (er war ja auch Pfarrer), dass er dem bärtigen Herrn zugetraut hat, sie alle zu zählen, ihnen allen Sorge zu tragen. Heute, wo wir darüber spekulieren, ob wir in einem Multiversum leben, wäre wohl auch sein lieber Gott vom Zählen überfordert.

Und dann heisst es wieder:

Day O, day O
Daylight come and me wan‘ go home
Work all night on a drink of rum
Daylight come and me wan‘ go home

Harry Belafonte: Day O

[Hören Sie die Melodien all dieser Lieder noch? Oder sind die Fünfziger Jahre doch schon zu weit zurück?]

 

Tu ne dis jamais rien

Ja, ich weiss: du säisch nie nüt.
Cha passiere, was wott, du säisch nüt.
Dir mues me nöd säge: So schwig doch!
Aber wänn nie niemer nüt säit, wird au nie nüt besser.
Dir mues mer ehnder zurüefe: So red doch!
Red! Säg öppis!
Ja, ich weiss: du säisch nie nüt.
Tu ne dis jamais rien.

Das Spruchband hing in Rouen an einer Hausfassade. Ich habe keine Ahnung, an wen es sich richtet, ob es jemanden oder uns alle zum Reden auffordert, ob es ein Appell zum Anprangern von Missständen ist oder in einem ganz anderen Zusammenhang steht. Vielleicht ist es eine französische Version vom Schweigen der Lämmer? Mich jedenfalls, als ich die alte Fotographie wieder fand, stimmt die Aufforderung nachdenklich: Worüber schreibe ich in meinen Homepagetexten nicht, wozu sage ich nichts? Worüber schweige ich? 

Zu dieser Konstellation von Eugen Gomringer schreibt Peter von Matt: „Die Konstellation «schweigen» gehört zu seinen berühmtesten; keine Literaturgeschichte kommt um sie herum. Sie ist ein Klassiker wie «Der Besuch der alten Dame» oder «Stiller». Der Ruhm hat seinen guten Grund. Denn wir können vor diesem Text an uns selbst verfolgen, wie die Betrachtung vom Anschauen ins Meditieren hinübergleitet. Da ist zunächst ein Paradox, wie in vielen mystischen oder okkulten Texten. Wer schweigen sagt, der schweigt ja gerade nicht. Im Gegenteil, das Gedicht dröhnt förmlich von diesem Wort. Nur in der Mitte, in der Leere, kann das Gebilde, indem es nichts sagt, sagen, was es sagen möchte. Hier ist es totenstill. Auch das Weiss dieser Leere ist eine Spur weisser als das Weiss um das Gedicht herum. Unsere Augen verstärken den imaginären akustischen Prozess. Dieser leere Raum beginnt in der Betrachtung zu vibrieren. Die Öffnung eröffnet etwas. Lautlose Epiphanie. Es ist schwer, darüber zu reden.“ [Rede Peter von Matt zum 90. Geburtstag von Eugen Gomringer im Literaturhaus Zürich am 28. Januar 2015. ] Gomringers Ode an Zürich findet sich übrigens auf dieser Site unter „Vermischtes 2015“ unter dem Titel „Wieder einmal ein Gedicht“.

Miteigentümerversammlung die zwölfte

Die diesjährige Miteigentümerversammlung findet am Startabend der Fussballweltmeisterschaft in Russland statt. Russland gewinnt 5:0 gegen Saudiarabien. Am Vortag überreichte mir mein Getränkehändler eine Fan-Schärpe: ALLEZ LES SUISSES. «Die Welt» ist im Fussballfieber. Dennoch sassen am 14. Juni rund um den Tisch in der Alten Metzg dieses Jahr mehr Männer als Frauen.

Düby Bau- & Verwaltungs AG übernimmt weiterhin die Verwaltung der Siedlung im Eschberg, obschon Herr Düby nach seiner Pensionierung kürzer tritt.

Ein Stück eines Siedlungsweges leidet unter Altersschwächen, der Hang rutscht ab. Nach längerer Diskussion erhalten die Anwohner aus der Gemeinschaftskasse einen Zustupf von Fr. 500.- an den Bau einer Stützmauer.

Am Spielplatz wird zurzeit nichts geändert, der Sand nicht erneuert.

Alle Eigentümer werden energisch ermahnt, ihre Hecken regelkonform zu schneiden. Im Protokoll soll dies FETT hervorgehoben werden.

Im Februar 2019 soll entschieden werden, ob 2020 die Garagen- und Aussenlampen mit LED-Licht ersetzt werden.

Eine Hauswartin muss aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten. Ihre Arbeit wird mit Applaus verdankt. Andere Hilfskräfte konnten gefunden werden. 

Der Erneuerungsfonds wird wiederum mit Fr. 4000.- aufgestockt.

Das Quartierfest wird am 18. August gefeiert werden.

Protokoll der letzten Versammlung, Rechnung und Budget werden genehmigt, womit alles seine beste Ordnung hat. Ob man das von Putins Reich und der FIFA wohl auch sagen kann?

Realpolitik in Romanen und in der Tagespresse

«Schon lange haben wir keine Presseschau mehr gemacht», schreibt mir mein Freund und weist auf Artikel von Guggenbühl und Gujer hin. Tatsächlich tauschen wir über Email normalerweise wöchentlich unsere Eindrücke aus der Lektüre der Tageszeitungen aus. Nun verabschiedet er sich für einige Wochen in die Ferien nach Bella Italia, aber eigentlich schwingt da in seinem Satz ein leiser Vorwurf mit: «Du hast dich seit einigen Tagen nicht mehr gemeldet!» Ich merke plötzlich, dass ich mich in der Tat in den letzten Wochen kaum um die Tagesaktualitäten oder die aktuelle Politik gekümmert habe, sondern in die Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts abgetaucht bin.

Es waren drei Bücher, die mich in die Zeit des zweiten Weltkriegs zurückversetzt haben.

Zunächst einmal auf eine Empfehlung des leider verstorbenen britischen Historikers Tony Judt in seiner Essaysammlung «Das vergessene 20. Jahrhundert» der Roman «Sonnenfinsternis» von Arthur Koestler. Wer diesen wohl bedeutendsten politischen Roman des 20. Jahrhunderts noch nicht gelesen hat, dem sei empfohlen, dies nachzuholen. Held des Buches ist Nicolas Salmanowitsch Rubaschow, ein hoher sowjetischer Funktionär, Trotzki, Radek und Bucharin nachempfunden, der eines Nachts verhaftet und im Rahmen der Moskauer Prozesse auf Geheiss Stalins verurteilt wird. Am Ende langer Verhöre gesteht er alle ihm vorgeworfenen Verbrechen, die er so nie begangen hat, und hält damit der Partei und dem Führer die Treue, leistet ihr einen letzten Genossendienst. Alle Figuren im Roman sind zwar erfunden, aber: SO IST ES WIRKLICH GEWESEN! Es ist ein niederschmetterndes Buch, vor allem, weil man weiss, wie nahe an der Realität Koestler erzählt. Und weil ich befürchte, dass unter Putin die Gewaltentrennung in Russland nicht viel besser funktioniert als seinerzeit unter Stalin.

«Unter der Drachenwand» von Arno Geiger versetzt den Leser zurück in die letzten Kriegsjahre vor 1945. Wir sind in Österreich. Ein verletzter Wehrmachtsoldat kommt von der Ostfront zurück in sein Elternhaus nach Wien, findet dort seinen Vater, den Nazifan, den er nicht mehr aushalten kann, flieht aufs Land unter die Drachenwand, gerät an seinen Onkel, den er schliesslich erschiesst, um einen Freund zu retten, verliebt sich in eine Berlinerin, und wir verfolgen die alliierten Bomber, die über all dies hinweg nach Linz fliegen, lesen die Briefe aus Berlin, wo alles bombardiert wird, und staunen, wie viele Menschen noch immer an den Führer und die Wunderwaffe und den Endsieg glauben oder jedenfalls so tun (müssen), selbst, als die Russen schon vor Wien stehen. Der Held der Geschichte, der Wehrmachtsoldat, muss zurück an die Front, überlebt aber, und wir legen das Buch zufrieden weg.

Paulus Hochgatterer bedient sich einer Begebenheit, die sich in seiner Familie gegen Ende des Krieges zugetragen hat und schreibt «Der Tag, an dem mein Grossvater ein Held war». War er das wirklich? Jedenfalls ist der gewalttätige Wehrmachtsleutnant am Ende der kurzen Erzählung tot – allerdings wahrscheinlich auch der auf den Hof der Familie geflüchtete russische Soldat. Wie Menschen mit dem Krieg, mit der Soldateska, mit der Politik in einer Diktatur umgehen, wird aus der Sicht eines dreizehnjährigen Mädchens erzählt. Das gelingt dem Kinderpsychiater Hochgatterer grossartig.

Diese drei Bücher haben mich dermassen gefangen genommen, dass ich Allan Guggenbühls Kritik am Lehrplan 21 aus dem Tagi vom 26. Mai nur am Rand zur Kenntnis genommen und Eric Gujers Artikel über die Zeitenwende in der Weltpolitik vom 25. Mai schon gar nicht erst gelesen habe. Während ich diesen Beitrag für die Homepage schreibe, hole ich die Lektüre aus der NZZ nach und zitiere daraus:

Eric Gujer: «Eine forcierte Realpolitik kennt derzeit viele Anhänger: das Russland des Geheimdienstfunktionärs Putin ohnehin, aber auch China, das seine Hegemonie in Asien festigt und bis zum Jahr 2030 seine Marine so weit vergrössern wird, dass sie im Pazifik die Vormachtstellung der US-Navy bricht. Der chinesische General Sunzi verfasste bereits zwei Jahrtausende vor Machiavelli das erste realpolitische Traktat zur Kriegs- und Staatskunst. Während aber die Thesen des Florentiners in Europa umstritten blieben, erfreute sich der Feldherr im Reich der Mitte stets höchsten Ansehens.»

Und frage mich einigermassen verunsichert: Muss denn Realpolitik wirklich sein, Herr Gujer? Oder führt sie uns nicht wieder zurück in eine Welt wie jene der Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts?

Mein Freund wird ja in wenigen Wochen ausgeruht, sonngebräunt und glücklich aus den Ferien zurück sein, dann suchen wir Antworten.

 

Arthur Koestler. Sonnenfinsternis. Elsinor Verlag. Coesfeld. 2016
Arno Geiger. Unter der Drachenwand. Carl Hanser Verlag. München 2018
Paulus Hochgatterer. Der Tag, an dem mein Grossvater ein Held war. Paul Zolnay Verlag. Wien 2017

Grappa oder Limoncello – Bush oder Al Gore – Auf- oder Abrunden

Bei unserem letzten Freundestreffen kam die Rede auf Pukelsheim, weil wir darüber debattierten, wie in Proporzwahlen eigentlich die Anzahl Sitze bestimmt würden. Ich beschloss zu Hause, in George G. Szpiros «Die verflixte Mathematik der Demokratie» nachzuschlagen. Offenbar haben sich Menschen schon immer über die Frage Gedanken gemacht und Theorien entworfen, wie gerechte Wahlverfahren und richtige Entscheide bei Abstimmungen herbeizuführen wären. Schon Llull (13. Jahrhundert), Cusanus (15. Jh.), Borda und Condorcet (18. Jh.) beharrten darauf, dass bei mehr als zwei Kandidaten oder sachlichen Optionen Mehrheitswahlen nicht immer die besten Kandidaten oder die besten Alternativen liefern. Und dass bei drei und mehr Kandidaten Zirkel drohen.
Szpiro erläutert dies an einem hübschen Beispiel: Peter, Paul und Maria müssen entscheiden, was sie als Abenddrink kaufen. Peter bevorzugt Amaretto vor Grappa und Grappa vor Limoncello. Paul zieht Grappa Limoncello vor und Limoncello Amaretto. Maria schliesslich hat Limoncello lieber als Amaretto und Amaretto lieber als Grappa. Sie stimmen ab.
Eine Mehrheit zieht Amaretto dem Grappa vor (Peter und Maria) und eine Mehrheit hätte Grappa lieber als Limoncello (Peter und Paul). Also könnte man eine Kiste Amaretto kaufen. Doch Paul und Maria weisen darauf hin, dass sie beide Limoncello dem Amaretto vorziehen würden. Hätten die drei eine dritte Abstimmung abgehalten zwischen Limoncello und Amaretto, so hätte eine Mehrheit (Paul und Maria) Limoncello gewählt. Wir kaufen Limoncello! Aber nein, rufen Peter und Paul, wir hätten lieber Grappa als Limoncello!! Man kann es drehen und wenden wie man will. Es gibt keine Lösung aus diesem Zirkel. 

Lull übrigens schlug ein interessantes Wahlverfahren für kirchliche Würdenträger vor: Die Kandidaten betreten hintereinander aufgereiht die Kirche. Kandidat A und Kandidat B treten gegeneinander an. Der Sieger tritt gegen C an. Wer hier siegt, kämpft gegen D usw. Am Schluss steht der Gewählte fest. Möchten Sie gerne als Erster, also als A, die Kirche betreten oder lieber als Letzter, etwa als K?

Im 15. Jahrhundert schlägt Cusanus ein Wahlverfahren vor, das er am Beispiel der Wahl des deutschen Kaisers erläutert, und das noch heute, zum Beispiel bei der Wahl des besten Eurovisionssongs, angewendet wird. Jeder Kandidat erhält von jedem Wähler eine Einstufung  (0 – 10 und dann 12 bei der Eurovision).
Solche Verfahren erlauben „strategisches Wählen“. Rolf Nader von der grünen Partei hatte nie eine Chance, amerikanischer Präsident zu werden. Wer grün wählen wollte, wählte deshalb vernünftigerweise nicht Nader, sondern Al Gore, der auch ein bisschen grün war. Im Jahr 2000 waren aber zu wenige Wähler vernünftig, Nader erhielt zu viele Stimmen, Al Gore zu wenige, und Bush gewann. So eine Schande!! Cusanus, der eigentlich Nikolaus Krebs hiess und aus Kues an der Mosel stammte, hatte im Laufe seines Lebens eine riesige Bibliothek zusammengetragen. Im Zweiten Weltkrieg schonten die Alliierten Kues und verzichteten wegen dieser Bibliothek auf die Bombardierung des Städtchens. Cusanus war es übrigens, der beweisen konnte, dass die sogenannte Konstantinische Schenkung an den römischen Papst Silvester im 4. Jahrhundert eine Fälschung aus dem 8. Jahrhundert war.

Es war schliesslich Kenneth Joseph Arrow (1921 – 2017), der streng mathematisch beweisen konnte, dass es unmöglich ist, eine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion ausfindig zu machen, sobald es mehr als zwei Wahlmöglichkeiten gibt. Ohne Ausnahme zwingt jeder Versuch, die Rangordnungen einer Gruppe von Menschen in eine kollektive Auswahl zu führen, einer Gruppe von Wählern eine ungeliebte Lösung auf. Diese Erkenntnis schlug wie ein Blitz ein. Seit Platon, Llull und Condorcet hatte man gehofft, irgendwann ein Verfahren zu entdecken, mit dem man die Rangordnungen der einzelnen Wähler zusammenführen könnte. Arrow machte diesen Hoffnungen ein Ende.

Anders ausgedrückt: Es gibt keine demokratische Verfassung mit einem stimmigen Verfahren kollektiver Entscheidungen; nur eine Diktatur kann ein paar wenige, harmlos klingende Bedingungen erfüllen. Szpiro: «Wir haben die Wahl zwischen fünf Arten von Pest oder der Cholera. Entweder akzeptieren wir Zirkel oder eine Diktatur oder aufgezwungene Rangfolgen oder eine von zwei Arten irrationalen Handelns oder wir werfen die Demokratie zur Tür hinaus. Wir können nicht alles haben.»

Da habe ich nun also eine Illusion weniger!

Nach Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie, Heisenbergs Unschärferelation und Gödels Unvollständigkeitssatz nun also auch noch Arrows Unmöglichkeitstheorem für die Sozialwahltheorie.

Und was ist nun mit Professor Friedrich Pukelsheim aus Augsburg? Nun, die Berechnung der einer Partei zustehenden Sitze in einem Parlament ist eben auch nie wirklich «richtig oder gerecht» möglich. Und Szpiro schildert ausführlich und humorvoll die diesbezüglichen Querelen im amerikanischen Kongress. Doch Pukelsheim hat einen Computeralgorithmus entwickelt, der dafür sorgt, dass sowohl die (Zürcher) Bezirke als auch die Parteien proportional vertreten sind und dass jede Stimme gezählt wird. Gerecht? Ja schon, obschon dabei die kleinen Parteien gegenüber den grossen halt doch etwas bevorzugt werden.

George G. Szpiro. Die verflixte Mathematik der Demokratie. Springer. Verlag NZZ. 2011

Ah! Les aubépines

Als begeisterter Leser von Marcel Prousts «A la recherche du temps perdu», in der sich die folgende, sehr berühmte Passage findet

« Je le trouvai [le chemin] tout bourdonnant de l’odeur des aubépines. La haie formait comme une suite de chapelles qui disparaissaient sous la jonchée de leurs fleurs amoncelées en reposoir ; au-dessous d’elles, le soleil posait à terre un quadrillage de clarté, comme s’il venait de traverser une verrière ; leur parfum s’étendait aussi onctueux, aussi délimité en sa forme que si j’eusse été devant l’autel de la Vierge, et les fleurs, aussi parées, tenaient chacune d’un air distrait son étincelant bouquet d’étamines, fines et rayonnantes nervures de style flamboyant comme celles qui à l’église ajouraient la rampe du jubé ou les meneaux du vitrail et qui s’épanouissaient en blanche chair de fleur de fraisier. »

bat ich vor einigen Jahren meinen Gärtner, mir am Hang gegen den Berenbach zwei Weissdornbüsche zu pflanzen. Leider sei das nicht mehr erlaubt, meldete er, Weissdorn dürfe wegen des Feuerbrands nicht mehr gepflanzt werden; er setze mir zwei Schwarzdornbüsche. Die nennen sich im Französischen «prunellier» oder «épine noire». Jetzt gerade blühen sie auf das Schönste und lassen mich vermuten, dass ich den Unterschied zwischen aubépine und épine noire wohl kaum bemerken würde.

Irgendwo habe ich gelesen, dass der Neuntöter gefangene Insekten als Futterreserve auf den Dornen des Weissdorns aufspiesst. Ob er das auch am Schwarzdorn macht? Gesehen habe ich noch keinen. Und den Kuckuck habe ich auch noch nicht gehört, nur die Hausrotschwänze lärmen und knirschen wie verrückt.

Hier noch die Passage in Deutsch, die ich bereits im Mai 2013 unter dem Titel „Der Duft der Weissdornblüte“ zitiert habe:

„Für mich erhob sich summend darüber der Duft der Weissdornhecken. Diese Hecken bildeten in meinen Augen eine unaufhörliche Folge von Kapellen, die unter dem Schmuck der wie auf Altären dargebotenen Blüten verschwanden; unter ihnen zeichnete die Sonne auf den Boden ein lichtes Gitterwerk, so als fiele ihr Schein durch ein Kirchenfenster; ihr Duft strömte sich so voll und überquellend aus, wie ich ihn vor dem Altar der Muttergottes stehend verspürt hatte, und die ebenso geschmückten Blüten trugen eine jede mit gleicher gedankenlosen Miene ihr schimmerndes Strahlenbündel aus Staubgefässen, feine glitzernde Rippen in spätgotischem Stil wie die, die in der Kirche das Gitter der Empore durchzogen oder die Kreuze der Buntglasfenster, die aber hier die weisse sinnliche Fülle von Erdbeerblüten hatten.“

Heute nun, fünf Jahre später, blühen meine beiden Schwarzdornsträucher sehr viel üppiger.

Romantik? Romantik!

Ich lasse mir vom Schweizer Fernsehen in der Sternstunde Kunst Martin Suter präsentieren. Zuerst gibt’s einen Film mit den Stationen Zürich, Marrakesch, Südamerika und Deutschland. Er liebe den Luxus, sagt er leicht verlegen, weshalb er viel arbeiten müsse. Alle zwei Jahre erscheint ein neuer Roman, was wirklich mächtig imponiert, auch wenn da Simenon mit seinen Maigrets weit schneller war.

Wochen zuvor zeigte SRF eine Sendung mit Martin Suter und Stefan Eicher mit Liedern, die Suter getextet und Eicher komponiert und vorgetragen hat. Das war schlicht grossartig.
[Wissen Sie noch: Anlässlich eines Musikwettbewerbs sang Stefan Eicher «s’isch äbene Mönsch uf Ärde, Simelibärg» – und erntete quasi null Punkte!
Dört unde n i d’r Tiefi
Da steit es Mühlirad.
Das mahled nüt als Liebi
Die Nacht und auch den Tag]

Im Interview fragte Juri Steiner nach jenem Gedicht, welches Suter am besten gefalle. Suter: «Mal sehen, ob ich es noch zusammenbringe»:

Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort.
Und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.

So ein stilvoller Romantiker, dieser Martin Suter, der von sich sagt, er sei jeweils sehr glücklich, wenn er so etwas wie ein Zauberwort gefunden habe. Für mich fehlt da nur noch ein anderer Vierzeiler von Eichendorff:

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Und Martin Suters Lieblingsbuch? Auch da geht er weit zurück: E.T.A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels.

Ich eile zu meinen Büchern, finde mehrere Titel von Suter, aber nicht des Teufels Elixiere. Werde ich mir nächstens zu Gemüte führen. Und bin einmal mehr sehr begeistert von den SRG-Sternstunden, die mich immer wieder anregen, Altes und Neues mir neu anzueignen.

In lebhafter Erinnerung bleibt mir ein Kontrapunkt: Ich erscheine an einem Anlass mit Robert Walsers Spaziergang unter dem Arm. Schimpft ein Schriftsteller: Wie sollen wir da leben können, wenn alle Welt immer nur die alten Bücher liest!

Suter wird gelesen – und wie! Falls Sie noch nicht zu seinen Lesern gehören, schlage ich vor:
Allmen und die Dahlien. Diogenes Verlag Zürich. 2013

Meine Lektüre 2017

Mein Freund schickt mir ein sehr schönes Petrarca-Zitat:

«Gold, Silber, Edelsteine, purpurfarbene Gewänder, Häuser aus Marmor errichtet, gepflegte Landgüter, fromme Bildnisse, mit Schabracken geschmückte Streitrosse und andere Dinge dieser Art bieten wandelbare und oberflächliche Genüsse; Bücher aber machen Freude, die ins Mark trifft; sie sprechen zu uns, beraten sich mit uns, verbinden sich uns in lebendiger Intimität.» (Stephen Greenblatt zitiert und übersetzt nach: John Addington Symonds, The Renaissance in Italy, 7 Bde., orig. 1875-1886)

Francesco Petrarca, der Renaissance-Gelehrte aus dem 14. Jahrhundert (1304 – 1374) findet ein spätes Echo bei Umberto Eco (1932 – 2016):

Ich zitiere aus „Im Wald der Fiktionen“: „In jedem Fall werden wir nicht darauf verzichten, literarische Fiktionen zu lesen, denn sie sind es, in denen wir nach einer Formel suchen, die unserem Leben einen Sinn gibt.“

Beide, Petrarca und Eco, sprechen mir aus der Seele. Deshalb also: Herzlichen Dank, lieber Freund, für die Stimme aus dem Mittelalter. Sie erinnert mich daran, dass ich die Absicht hatte, über meine Lektüre im Jahr 2017 zu berichten. Nun denn: Welche Bücher bereiteten mir «Freude, die ins Mark trifft»?

Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild. (Rowohlt Berlin. 2015) Aufklärung! Das bedeutete mir immer: Benütze deinen Verstand; der Mensch ist ein Vernunftwesen; Denken befreit. Und ich erinnere mich an einen Satz des damaligen aargauischen Erziehungsdirektors: „Hinter die Errungenschaften der Französischen Revolution gehen wir nicht zurück!“ Und die Revolution war ja wohl ein Ergebnis der Aufklärung.

Nun aber streicht mir Steffen Martus in seinem Epochenbild wieder jene Szene um den Bart, wo Klopstock („dieser Beatnik der Aufklärung“) mit jungen Männern und Frauen auf dem Zürichsee einen „Tag der Freude“ feiert und damit den Zeitgenossen zeigt, was „Empfindsamkeit“ bedeutet. So enthält denn das dicke Werk auch eine präzise Analyse von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“.

Franz Rueb: Zwingli. Widerständiger Geist mit politischem Instinkt. (Hier und Jetzt Verlag. 2016) Franz Rueb ist nicht Theologe, auch nicht Historiker, sondern Journalist. Das Buch ist denn auch mehr Lesebuch als wissenschaftliche Abhandlung. Aber er präsentiert ein sehr differenziertes Bild des Reformators und malt ein stimmiges Bild von den Umständen und den gesellschaftlichen Situationen während der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, insbesondere in der Eidgenossenschaft. Eindrücklich belegt Rueb, dass Zwingli ein europaweit angesehener und korrespondierender Intellektueller war. Mir wird bei der Lektüre wieder einmal deutlich, wie schwer es uns Heutigen fällt, die Menschen jener fernen Zeit wirklich zu verstehen. Ein hervorragendes Buch, finde ich!

Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert. (Hanser. 2010) «Die Rückkehr des politischen Intellektuellen» heisst der Untertitel. Und behandelt werden unter anderen Arthur Koestler, Primo Levi, Albert Camus, Hanna Arendt. Interessant sind auch die Essays, die unter dem Titel «Das amerikanische (Halb-)Jahrhundert» gebündelt sind, etwa jener zur Kubakrise oder der andere über Henry Kissinger. Judt diagnostiziert präzise den «merkwürdigen Tod des liberalen Amerika». In der Tat ist Judt ein engagierter und überzeugter Sozialdemokrat, ein Befürworter des demokratischen Sozialstaates, leidenschaftlicher Gegner des Kommunismus und scharfer Kritiker Israels, letzteres ist nachzulesen in «Ein düsterer Sieg – Israel und der Sechstagekrieg». Fast alle Essays (oder gar tatsächlich alle?) sind Buchrezensionen. Mir gefällt Judt wie immer. Ich habe das Buch in der nicht sonderlich sorgfältig lektorierten deutschen Übersetzung gelesen, anders als seinerzeit «Postwar».

Soweit sind dies alles Sachbücher. Wo bleibt die Fiktion, die Umberto Eco so lobt?

Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt. (C.H.Beck. 2016) Eine traurige, dramatische, dichte, fesselnde, niederschmetternde Geschichte. … Vieles ist stark zugespitzt, wirkt farbig inszeniert, quasi bereit für Drehaufnahmen. Die Schilderung der Leprakolonie in Rumänien oder die Erzählung, wie der Mann, der das Glück bringt, Kinder ermordet, sind grossartig schauerlich, unbegreiflich, unvergesslich. Nein: Ein erbauliches Buch ist das nicht. Doch steckt in diesem Text Vieles an Literatur- und Kulturgeschichte, an mythischen Denkräumen, …

Zora del Buono: Gotthard. (C.H.Beck. 2015) Baustelle Südportal des neuen Eisenbahnbasistunnels. Geschildert werden Menschen während eines Vormittags. Es sind dies:

  • Fritz Bergundthal, ein Eisenbahnfan, der aus Berlin angereist ist, um Züge im Tessin zu fotografieren.
  • Robert Filz, Tunnellokführer, Spanner und reger Benutzer des örtlichen Bordells, verliebt in die schweren Brüste Mônikas.
  • Dora Polli-Müller, pensionierte Kantinenbetreiberin, lebenslustige, etwas schräge alte Frau in Bikini und Stöckelschuhen, wohnhaft an der Kantonsstrasse und unter der Autobahnbrücke. Sie wehrt sich verzweifelt dagegen, als Frau nicht mehr wahrgenommen zu werden.
  • Flavia Polli, die Tochter. Ein Mannweib, eine Lesbe, verliebt in Mônika, Lastwagenfahrerin.
  • Aldo Polli, der nicht mehr am Tunnel mitarbeitet, weil er beim Bau des Strassentunnels einen Kameraden ermordet und die Leiche in die Felswand eingemauert hatte. Er wird am Ende des Buches auf völlig bizarre Weise getötet: Ein Transporthelikopter verliert ein Kanupaddel, das ihn erschlägt, ihm den Kopf vom Rumpf trennt und Kopf samt Helm in Bergundthals Hände wirft. Aldo war aktiver Drogenhändler.
  • Tonino di Torino, Aldos Kumpel, Aldos Mittäter und Drogenlieferant. Er dient als Illustration dafür, was mit Männern geschieht, wenn sie heiraten.
  • Thomas Oberholzer aus Cotbus, auch er misslich verheiratet, ein Bünzli, der nun zum ersten Mal in seinem Leben zu einer Hure geht, zu Mônika. Nicht aus Lust, sondern aus Trotz gegen seine Frau.
  • Mônica das Neves Teixeira, die brasilianische Hure im Tal.

Man kann die Erzählung auch so lesen: Die Heilige Barbara sorgt für Gerechtigkeit. Und so: Zora del Buono verführt uns in die Welt der alten Griechen: Dora Polli-Müller als Penelope, Aldo Polli als Odysseus, Filz, der den Verkehr mit dem Hades besorgt, und die Götter, die in die Händel der Menschen eingreifen.

 

Und weiter: Albert Camus. L’étranger. Und Michael Köhlmeier. Das Mädchen mit dem Fingerhut. Oder Annie Ernaux. Les années. ETC.