Lesezeit

Ich bin ein bisschen zu früh im Hauptbahnhof, unterwegs zu einer literarischen Diskussion unter Freunden über Alex Capus «Königskinder». Ich vertreibe mir die Zeit, indem ich in den Auslagen der Buchhandlung Barth stöbere. Dabei springt mir das Buch «Der Weg in die Unfreiheit» von Timothy Snyder ins Auge. Ich erinnere mich sofort, dass ich vor wenigen Jahren ein Buch von Tony Judt gelesen habe, als dieser wegen seiner Krankheit schon nicht mehr in der Lage war, zu schreiben. Snyder und Judt diskutierten monatelang fast Tag für Tag und schliesslich wurden die Gespräche in ein Buch gefasst. Wie hiess das bloss? Im Büchergestell fand ich nichts, nur andere Bücher von Tony Judt, natürlich «Postwar», «Das Chalet der Erinnerungen», «Das vergessene 20. Jahrhundert» und andere. Dann fiel mir ein, dass ich ja einen E-Reader besitze und darauf Sachen wie «Siebenkäs» von Jean Paul oder «Les années» von Annie Ernaux gespeichert habe. Ob sich da mein gesuchter Snyder/Judt findet? In der Tat: «THINKING THE TWENTIETH CENTURY» erscheint nach langer Aufladezeit am Bildschirm – das Gerät hatte jahrelang «geschlafen»! Und ich beginne das faszinierende Buch erneut zu lesen – allerdings erst, nachdem ich mich wieder (etwas mühsam) in die Handhabung des digitalen Werkzeugs eingewöhnt hatte:

«Hannah Arendt» says that «mass societies reflect a pathological interaction between ‘mob’ and ‘elite’, a distinctive dilemma of what she calls modernity.»

Dieses Dilemma, denke ich, beobachten wir zurzeit in Frankreich zwischen Macron und den «gilets jaunes».

Ein bisschen zu früh unterwegs, ein Blick in eine Buchhandlung, und schon bin ich dabei, ein «digitales Buch» zu lesen, ganz entgegen meiner Abneigung, die ich in «Zeitungslektüre» vor einigen Tagen geschildert habe. Ich lade im Übrigen alle ein, die Werke des Historikers Tony Judt zu lesen, digital oder in Print, englisch oder deutsch, sie sind einfach hervorragend, finde ich:

Postwar. A History of Europe Since 1945. Vintage Books. London. 2005
Thinking the Twentieth Century. Penguine Press.
2012
Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. Hanser. 2010
Das Chalet der Erinnerungen. Hanser. 2012
und natürlich:
Timothy Snyder. Der Weg in die Unfreiheit. Russland Europa Amerika. C.H.Beck. München. 2018

Capus, dies noch so nebenbei, widmet sich auch dem Thema Freiheit – Unfreiheit. Er erzählt nämlich die Geschichte von «Pauvre Jacques», der am Hof von Ludwig XVI. die Französische Revolution erlebt und überlebt und sein späteres Leben in Freiheit in Bulle verbringt. Das ist eine ganz vergnügliche Lektüre.

Alex Capus. Königskinder. Hanser. 2018

Zeitungslektüre

DIE MITTAGSZEITUNG
Christian Morgenstern

Korf erfindet eine Mittagszeitung,
welche, wenn man sie gelesen hat,
ist man satt.
Ganz ohne Zubereitung
irgend einer andern Speise.
Jeder auch nur etwas Weise
hält das Blatt.

Im Jahr 2018 hat mich mein Leibblatt ganz und gar nicht gesättigt. Um zu sparen und um einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten, aber auch, um die enormen Papierberge zu vermeiden, die es jeweils zu entsorgen galt, habe ich die Druckausgabe der Zeitung abbestellt und sie nur noch virtuell, will sagen am Computer, gelesen.

Die zu entsorgenden Papierberge schwanden tatsächlich dahin, aber ob aufgrund meines Verzichts weniger Wälder abgeholzt wurden, wage ich zu bezweifeln. UND SATT WURDE ICH AUCH NICHT! Immer wieder musste mich ein Freund auf einen Artikel aufmerksam machen, «der Dich interessieren dürfte», und den ich übersehen hatte. Mit meinem Jahrgang bin ich offensichtlich ausserstande, meine Zeitung im Web richtig zu lesen. Ich ertappte mich dabei, dass ich jeweils morgens einige Minuten in der Zeitung herumsurfte, einige Titel und Leads zur Kenntnis nahm und nicht einmal das Feuilleton, mein Lieblingsbund in der Printausgabe, geniessen konnte. Nein, ich bin eindeutig kein «digital native»!

Nun also «lese ich wieder Zeitung», das heisst, ich laufe frühmorgens an den Briefkasten, setze mich an den Frühstückstisch und lese und lese und lese. An Wochenenden dauert das seine Zeit, denn die Samstagsausgabe enthält interessante Beilagen, und dann erst die Sonntagsausgabe!

ZUFRIEDEN UND SATT gebe ich das Papier Stunden später zur Entsorgung frei, setze mich an den Computer und schicke meinem Freund eine SMS: «Hast Du die Kolumne zum Tangotanzen gelesen?» Und dem anderen Freund per Email: «Verpass bitte den Aufsatz über Houellebecq nicht!»

PS1: Morgensterns Gedicht entnehme ich seinen Galgenliedern, erschienen im Inselverlag 1947. In meiner Kindheit erschien die NZZ noch dreimal täglich! Im Web ist sie natürlich immer à jour! Ob heutige Kinder den Ausdruck «man hält sich das Mittagsblatt» noch verstehen würden? Macht nichts, sie helfen mir dafür bei SMS und Whats App.

PS2: Korfs Erfindung wäre wohl heute im Zeichen unseres Schlankheitswahns bei vielen Abonnenten äusserst beliebt: Lektüre in der Mittagspause am Smartphone im Fitnesscenter.