Humorfestivalloses Arosa

Auch dieses Jahr fuhren wir im dezember für einige wenige tage nach Arosa. Obschon wegen Corona das humorfestival nicht stattfinden konnte. Obwohl der kanton Graubünden alle restaurants schliessen liess. Aber eine kurze auszeit in den bergen würde uns – gerade wegen Corona – gut tun, fanden wir und fuhren los.

Bei Litzirüti: Das sieht ja vielversprechend aus, trotz nebel und schneegestöber.

Und in der tat: zwei tage später scheint die sonne auf die prächtigste winterlandschaft.

So viel schnee! Grossartig!! Und doch zu wenig? Jedenfalls arbeiteten die schneekanonen und -lanzen auf das heftigste:

Für uns zum glück konnten hotels offen bleiben und ihre gäste im betriebseigenen restaurant verpflegen. Wir logierten in der Sonnenhalde, einem Hotel Garni, genossen dort wie immer ein hervorragendes frühstück und durften abends im benachbarten Grischuna als hotelgäste dinieren. So gestaltete sich denn unsere auszeit in Arosa trotz Corona auf das angenehmste und erholsamste. Nicht zuletzt weil nirgends menschen zu hauf anzutreffen waren; so reisten wir einmal lediglich zu viert in der grossen gondel der Weisshornbahn in die höhe. Bloss einmal nahmen wir von weitem eine dichtgedrängte menschentraube wahr, als nämlich ein neuer bär ins bärenland einquartiert wurde. Das zog hunderte von schaulustigen an.

Der Grossvater

Grossvater steht mit vielen Männern im Wald an einer Holzgant, Stumpen im Gesicht, ein Rio 6, die Hände in den Hosenträgern. Er kauft einen Ster Brennholz. Oder war es gar ein Klafter? Ich war noch sehr klein, weiss es nicht mehr.

Dann waren wir oft im Wald, gingen mit dem Leiterwagen «ins Holz». In meiner Erinnerung war es immer kalt. Grossvaters Nase tropfte. Habe ich geholfen? Äste zusammengetragen? Oder gar Kleinholz gehackt? Ich war wohl zu ungeschickt.

Grossvater hielt Kaninchen und Hühner. Er mähte in der Umgebung Grasborte mit der Sense. Ich bewunderte ihn, wie er damit umgehen konnte, wie präzise er an Mauern und Gartenhaag heranmähen konnte, wie regelmässig und ruhig er die Sense dengelte. Ich durfte zusehen, wie er einem Huhn den Kopf abschlug, wie das Huhn kopflos davonrannte, bevor es die Grossmutter rupfen konnte. Sie trug wohl drei oder vier Schürzen übereinander. Heute denke ich dabei an Günter Grass.

Zum Zvieri isst Grossvater Speck und Käse, schneidet beides mit dem Taschenmesser, trinkt ein Glas Magdalener oder Kalterersee aus der fünfundzwanzig Liter Korbflasche. „Mach nicht immer so kleine Stücke“, sagt die Grossmutter.

Am Abend heizt Grossvater den Ofen ein. Im Gang hängt ein grosses Foto von ihm, zeigt einen etwa fünfzigjährigen Mann mit Hitlerschnauz. Der Kachelofen steht in der Stube. Als ich zum letzten Mal in Grossvaters Haus war, seinen Hühner- und Kaninchenstall sah, erschrak ich, wie klein das alles war, was dem Knaben damals die Welt bedeutet hatte.

Die Mittelschule besuchte ich zunächst in Zürich. Ich schämte mich ob meiner schmutzigen Schuhe angesichts der glänzenden Exemplare meiner Kameraden vom Zürichberg. Hatte ich keine anderen Sorgen? Grossvater jedenfalls erlöste mich: Er putzte, glänzte und polierte meine Schuhe, dass sie neuer und schöner aussahen als jene vom Zürichberg. Letzthin habe ich gelesen, wie ein Schriftseller in einem seiner Werke praktisch die gleiche Erinnerung schildert. Wer hat das wo geschrieben? Das herauszufinden, wäre ein grösseres Unterfangen.

Noch eine Erinnerung: Als kleiner Knabe verbrachte ich hie und da die Nacht bei den Grosseltern, schlief auf dem Sofa in der Stube. Man deckte die Ständerlampe mit einem Tuch etwas ab, stellte den Fernseher an – die Grosseltern waren die ersten in unserer Familie mit so einem Apparat – und das noch heute aktuelle und sehr bekannte Signet des Tatorts erklang, und bald schlief ich ein. Diese Erinnerung täuscht offenbar, wie ich diese Woche erfahre, wo das fünfzigjährige Bestehen der Tatortserie gefeiert wird. Der erste Tatort sei 1970 ausgestrahlt worden. Da war ich längst verheiratet. Ob noch andere der hier geschilderten Erinnerungen trügen?

Grossvater liegt auf dem Sofa in der Stube. Grossmutter, Mutter und Tante waschen ihn. Grossvater stirbt. Nach seinem Tod übergibt mir Grossmutter seine Dienstpistole, eine Parabellum. Er ist Fourier gewesen

Celloballaden

Die Versuchung war zu gross! Trotz Corona und trotz der steigenden Fallzahlen diesen Herbst wagten wir uns – zunächst mit gemischten Gefühlen – ins Theater Rigiblick. Es erwartete uns ein Balladenabend mit Franz Hohler. Seine Celloballaden aus den Siebziger- und Achtzigerjahren sind uns in bester Erinnerung und so konnten wir nicht widerstehen. Vieles andere haben wir abgesagt, Freunde ausgeladen, Konzerte nicht besucht, aber «Friedrich den Gerechten» wollten wir uns nicht entgehen lassen. Der Abend hielt, was er versprach.

Hohlers Texte sind erstaunlich aktuell, so etwa, wenn er im Nachgang zur Publikation des Club of Rome (1972) konstatiert, dass der Weltuntergang bereits begonnen hat: Ein Käfer stirbt aus, und die Nahrungskette bricht auseinander, die Meere steigen, die Ressourcen werden immer knapper, und mir fällt Einstein ein, der einmal sagte, der dritte Weltkrieg werde als Atomkrieg fürchterlich sein, und den vierten würden die Menschen wieder mit Pfeilen und Keulen bestreiten.

Nur in hübschen Details wird das Alter der Lieder sichtbar. Die «Ballade vom Computer PX» beschreibt, wie ein Rechner zu flirten und balzen beginnt, wie die Technikerin zunächst erschrickt, sich aber schliesslich in die Maschine verliebt. «Sie schürzt ihre Röcke», heisst es, und kriecht in die Maschine hinein und man hört ein nächtelanges, behagliches Brummen. Die Schöne aber sieht man nie wieder.

Einmal mehr beeindruckte mich das Ende der Ballade vom gerechten Fritz:

Er beschloss nun nirgendwo zu bleiben, sich keiner Macht mehr zu verdingen, und hüpft seither in langen Sprüngen, damit er nicht am Boden schuldig werde, nackt auf den Grenzen unsrer Erde von Niemandsland zu Niemandsland. Er nimmt kein Geld mehr in die Hand, er isst nicht mehr, er trinkt nicht mehr und spricht auch nicht dabei.Er ist frei. Das war die Geschichte von Friedrich, dem Gerechten, das war die Geschichte vom gerechten Fritz. Versucht sie zu verstehen und den Friedrich nicht zu ächten, denn das Schicksal dieses Menschen ist kein Witz. Wenn ihr ihn trefft, behandelt ihn mit Schonung und offeriert ihm doch ein Bett in eurer Wohnung. Er wird nicht kommen, weil die Gänse, die die Daunenfedern gaben, sich auf Kosten eines Hungerkindes vollgefressen haben, darum legt euch selber in das Bett und ich hoff, ihr träumt recht nett von Friedrich, dem Gerechten, ja von dem, ich finde, dieser Mann verdient Respekt, denn die Moral ist für uns Ungerechte sehr bequem: Wer gerecht sein will, verreckt.

In unserer Zeit, wo die Politik mehr und mehr moralisiert wird, wo «Gerechte» missionarisch ihre «Wahrheiten» verkünden und alle und alles andere verachten, ist diese Ballade hörenswert.

Dann war da noch «Dr Dienschtverweigerer», Hohlers Übersetzung des Chansons von Boris Vian, der es zur Zeit des Algerienkriegs geschrieben und gesungen hat. Hohler produzierte es 1983 für eine seiner «Denkpausen». Doch obschon er den Schluss stark abgemildert hatte, wurde das Lied nicht ausgestrahlt, worauf Hohler die «Denkpausen» einstellte.

Herr Oberschtdivisionär
Dir gseht, das i nech schrybe
Chönnt s Läsen au lo blybe
Dir heits jo süsch scho schwär

I danken euch für d Charte
Dir wüsset, die vo wäge
Und hanech welle säge
Dir chönnet uf mi warte


Herr Oberschtdivisionär
I wirde nid Soldat
Vollbring ke Heldetat
I eusem Militär

… … … …

I glaub, jetz wüsster gnue
Und die, wo mi wei foh
Die sellen ynecho
I bschliesse d Tür nid zue.

Das Schweizervolk stimmte erst 1992 dem Zivilschutzgesetz zu! Ich habe mir nach dem Theaterabend zuhause «Le Déserteur» von Boris Vian angehört. Das Original ist ebenso eindrücklich wie Hohlers Mundartfassung. Erstaunlich ist allerdings, wie schleppend langsam Vian 1954 sein Chanson vorträgt. Es ist wie mit alten Filmen: Diese langen Einstellungen! Man hat Zeit zu hören, zu sehen und zu verstehen.

Corona und Pfnüsel

Ende September 2020 – und noch immer beschäftigt COVID-19 die ganze Welt. Und schon stehen Herbst und Winter und damit die Pfnüselzeit vor der Tür. Viele haben Angst. Andere fragen, was das alles soll, das seien reine Verschwörungen. Wer behält einen klaren Kopf?

Womöglich hilft nur der Galgenhumor – und ich zitiere wieder einmal Christian Morgenstern:

Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse,
auf dass er sich ein Opfer fasse

– und stürzt alsbald mit grossem Grimm
auf einen Menschen namens Schrimm.

Paul Schrimm erwidert prompt: „Pitschü!“
und hat ihn drauf bis Montag früh.

Christian Morgenstern. Alle Galgenlieder. Insel-Verlag. Wiesbaden. 1947
Erstveröffentlichung: 1905

Sainte-Beuve

Lange Zeit veröffentlichte die NZZ jeden Dienstag eine Kolumne des in Amerika lebenden britischen Historikers Niall Ferguson. Die Kolumne erschien jeweils in einer britischen Zeitung und in der NZZ exklusive in deutscher Übersetzung. Ich las sie immer mit grossem Interesse, mit Genuss und Gewinn und sandte sie dann elektronisch einem meiner Freunde, der Tagileser ist, und der sich mit der samstäglichen Tagi-Schachspalte revanchiert – die NZZ vernachlässigt uns Schachspieler sträflich. Sie wird sich wohl denken, es gäbe für uns genug Möglichkeiten, uns im Netz zu tummeln mit Worldchess, Chessbase und anderem.

Einmal schrieb mir mein Freund: «Schon eindrücklich, worüber er [Ferguson] alles Bescheid weiss. Ich möchte einmal wissen, wie solche Artikel entstehen. Gibt es da ein „Büro“, das Artikel in seinem Auftrag verfasst und nach seinen Ideen recherchiert, oder kann der Tausendsassa Solches einfach aus dem Ärmel schütteln?»

Oh, antwortete ich ihm, so aussergewöhnlich ist das nicht. Da gab es im 19. Jahrhundert einen Charles-Augustin Sainte-Beuve (1809 – 1869), der zwischen 1849 und 1869 – ausser in den Jahren 1857 -1861 – jeden Montag seine «Causerie du Lundi» publizierte. Um dies präzise belegen zu können, blätterte ich wieder einmal im Buch «Sainte-Beuve» von Wolf Lepenies – und es ergeht mir wie so oft: Ich stecke immer noch in diesen gut 600 Seiten, die mir die Geschichte und die Literatur Frankreichs des 17., 18. und 19. Jahrhunderts aufs eindrücklichste und farbigste nahe bringen. Hier ein kurzer Ausschnitt aus dem Buch von Lepenies über die Arbeitsweise Sainte-Beuves:

Ein Bild, das Text, Zeitung enthält.

Automatisch generierte Beschreibung

Auf Das Buch von Lepenies bin ich seinerzeit als begeisterter Proustleser gestossen, dessen „Recherche du temps perdu“ in einer ersten Arbeitsphase „Contre Sainte-Beuve“ hiess. Schon damals fragte ich mich, wer dieser Sainte-Beuve denn gewesen sei und stiess auf die „Causeries du Lundi“.

Sainte-Beuve war lange Zeit mit Victor Hugo befreundet, bevor sich die beiden zerstritten. (Adèle Hugo und Sainte-Beuve verliebten sich ineinander.) Victor Hugos Umgang mit Sainte-Beuve, der seinen Skeptizismus in Glaubensdingen schliesslich nicht mehr verbarg, prägte Hugos Roman «Notre Dame de Paris» massgeblich in Richtung auf eine Vision einer glaubensentleerten Moderne. Ein Kapitel des Romans ist überschrieben mit «Ceci tuera cela»: Das Buch tötet die Kathedralen!

So ganz nebenbei: Ich diskutierte mit meinem Freund einmal über Zwinglis Wurstessen, weil er in einer Zürcher Metzgerei eine Schweinsbratwurst gekauft hatte mit dem Aufdruck «Zwingliwurst 1519» und ich ihn darauf aufmerksam machte, dass dieses Essen bei Froschauer erst 1520 stattgefunden habe und zwar mit einer geräucherten Wurst, also einer Art Landjäger. Zwingli war zwar dabei, ass aber nicht mit. 1868 ass Sainte-Beuve am Karfreitag mit Freunden, dem Prinz Napoleon, Taine, Renan und Flaubert Fleisch. Flaubert: «Sainte-Beuve ass Karfreitags immer nur Fleisch und Wurst.» Dieses Wurstessen, das «Abendmahl in der Rue du Montparnasse, wurde zu einem Skandal des Empire,» schreibt Wolf Lepenies.

Wolf Lepenies. Sainte-Beuve. Carl Hanser Verlag. München Wien. 1997

Da wo das Leben noch lebenswert ist

Wir sind als Stammgäste eines Bistro in Zürich zu einem feinen Apéritif geladen. Das Wirte Ehepaar feiert das zehnjährige Jubiläum und dankt uns die treue Kundschaft – eine nette Geste. Im Laufe des schönen Herbstabends stellt sich dann heraus: Die Wirtsleute verlassen das zürcherische Bistro Le Puy und wandern aus in die Bretagne, eröffnen dort eine Bar, ein Bistro und laden uns nun ein, ihnen auch in Frankreich treu zu bleiben und sie wenn möglich und je nach Lust und Vermögen auch finanziell zu unterstützen. Da verschwindet also eine Zürcher Adresse, die wir sehr zu schätzen wussten, die wir oft besuchten, in der wir wirklich eine feine französische Küche genossen. Das stimmt nun doch etwas traurig – und die Bretagne ist halt weit weg.

Und es erinnert mich an andere Restaurants, die ich lieb gewonnen hatte, und die es nicht mehr gibt. Die Lebensdauer solch gastfreundlicher Häuser samt der Verweildauer ihrer Wirtsleute scheint doch kürzer zu sein als ich es mir wünschen würde.

Da war einmal die Rossweid in Gockhausen mit der hohen, offenen Holzdecke, einer sehr schönen Zimmermannsarbeit, mit den von mir sehr geschätzten Tripes à la mode de Caen oder dem Züri-Gschnätzlet mit Nieren, wie es sich gehört. Das Restaurant wich einer Wohnüberbauung.

Später ass ich oft im Restaurant Gonzalez zu Mittag, spanisch mit herrlicher Parillada, mit einem schönen, hinter dem Haus ruhig liegenden Garten. Wir feierten hier einige Familienfeste. Herr und Frau Gonzalez zog es nach Spanien!

Es wäre übertrieben, Lebensabschnitte nach den jeweils meist frequentierten Restaurants zu benennen. Doch immerhin: Als sich mein Berufsleben weitestgehend in Bern abspielte, fühlte ich mich in der Casa d’Italia wohl. Zurück im Kanton Zürich ass ich mittags mit den Arbeitskollegen und oft am Abend mit Familie und Freunden in der Rossweid bei Attingers und als meine Büros in der Stadt Zürich lagen, genoss ich das Gonzalez. Das Le Puy wurde das Bistro meiner bisherigen Rentnerjahre.

Denke ich an «meine» Restaurants, so kommt mir Peter Alexanders Schlager in den Sinn: «… da wo das Leben noch lebenswert ist.» Doch der wichtigste Grund, immer wieder an diesen Orten einzukehren, sind natürlich die Wirtsleute. Es bildete sich über Jahre jeweils eine solide, freundliche, persönlich bereichernde Beziehung heraus, die dann plötzlich abbrach und irgendwie fehlte. Aber klar: Ich werde neue Häuser, neue Gärten, neue feine Gerichte, neue nette Wirtsleute kennen und schätzen lernen – hoffentlich. Und nächstes Jahr fahren wir in die Bretagne!

Da fällt mir auf: Die Casa d’Italia, die ich in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts so häufig frequentiert hatte, die gibt es immer noch und sieht im Internet beinahe so aus wie damals.

gross, klein, gemässigt oder neu

Mein freund erzählt mir begeistert von seinem neuen handy. Nun müsse er ihm allerdings erst mühsam die kleinschreibung beibringen. Immer greife das korrekturprogramm ein. Aber mit der zeit werde sich das dann schon ergeben. [Das korrekturprogramm könne man doch ausschalten, wandte ich ein. Aber als ich das für diesen text versuchte, brauchte ich schon mehrere anläufe, bevor ich das richtige häkchen löschen konnte.] Nun erinnerte ich mich plötzlich an längst vergessenes: Als mittelschüler trat ich dem Bund für vereinfachte rechtschreibung bei, der sich für die gemässigte kleinschreibung einsetzte, und den es immer noch gibt, der sogar eine topaktuelle homepage führt. Als präsident einer lehrerkonferenz gab ich anfangs der siebzigerjahre das mitteilungsblatt der konferenz in gemässigter kleinschreibung heraus: Nur satzanfänge und eigennamen wurden gross geschrieben. Wie gesagt, ich hatte das vergessen, doch fällt mir nun ein, dass sich der damalige erziehungsdirektor, herr Gilgen, darüber sehr geärgert hatte, das sei dummes zeug! Das hauptargument gegen die kleinschreibung lautete damals, deutsche texte würden dadurch schwieriger lesbar und in einigen fällen sogar missverständlich. Ich gehe davon aus, dass man bei einiger übung texte in gemässigter kleinschreibung mühelos wird lesen können. [Übrigens: wie geht es Ihnen bei diesem text hier?] Es ist wie mit mundarttexten. Wer zum ersten mal eine kolumne von Pedro Lenz liest, wird mühe haben – vor allem als nichtberner. Es hilft schon, Lenz einmal gehört zu haben, wie er seine geschichten liest. Mit seinem tonfall, seinem sprachrhythmus im ohr fällt dann die lektüre wesentlich leichter.

Gegen ende des letzten jahrhunderts gab es ja dann tatsächlich eine rechtschreibreform, die neue rechtschreibung, die allerdings die fälle von grossschreibung massiv erhöhte. Heute beobachte ich mich dabei, wie ich selbst in SMS und emails substantive mühsam gross schreibe, obschon ich täglich mails lese, die ohne jede majuskel auskommen. In erinnerung an mich als junger lehrer, der von seinen schülern natürlich die geltende orrtografie einforderte, werde ich von nun an allerdings meine mails in kleinchreibung abfassen.

Es gab damals übrigens noch etwas, was längst verschwunden ist wie die gemässigte kleinschreibung – die sich allerdings nie etablieren konnte – nämlich die stenografie. Wir mittelschüler unterrichteten die jüngeren jahrgänge in dieser kunst der kurzschrift, welche durch moderne technik so überflüssig geworden ist wie demnächst wohl auch die handschrift.

Internierte im Girenbad Hinwil

Der Wikipedia-Eintrag zum Hinwiler Girenbad führt zwei Persönlichkeiten auf: Joseph Schmidt (1904 – 1942) und Bundesrat Ueli Maurer (* 1950). Joseph Schmidt bin ich in Lukas Hartmanns historischem Roman «Der Sänger» begegnet. Joseph Schmidt war in den dreissiger Jahren in der Tat ein sehr umschwärmter und quasi weltweit sehr berühmter Tenor gewesen. Er stammte aus einer jüdischen Familie in Davideny, Bukowina, damals Österreich. In den vierziger Jahren floh er vor den Nazis nach Südfrankreich und gelangte 1942 schliesslich illegal in die Schweiz. Er wurde ins Internierungslager im Girenbad eingeliefert und starb dort wenige Wochen später am 16. November 1942 in einem Zimmer des Restaurants Waldegg im Girenbad.

Ich finde Hartmanns Buch grossartig und bin tief beeindruckt, ja schockiert vom Schicksal dieses begnadeten Sängers im Zürcher Oberland. Lukas Hartmann verweist in seinem abschliessenden Dankeskapitel auf die Homepage www.josephschmidt-archiv.ch, geführt vom Tenor Alfred Fassbind in Dürnten. Hier lese ich, dass am Haus der Waldegg eine Gedenktafel an Joseph Schmidt angebracht sei. Obwohl wir häufig Käse im Girenbad kaufen, haben wir die Waldegg und die Tafel noch nie gesehen. Also los: suchen! Und hier ist sie, fast unmittelbar neben der Käserei Bieri. Die Waldegg ist zwar kein Restaurant mehr, aber die Tafel ist noch da:

 

Und im Web bei Herrn Fassbind kann man Joseph Schmidt auch singen hören: grossartig!

 

Das Gebäude, in welchem die Internierten einquartiert waren – unter ihnen übrigens auch Manès Sperber, der auch aus der Bukowina stammte – haben wir nicht gefunden. Es war damals tatsächlich eine «gnadenlose Zeit», unmenschlich auch das Verhalten von Menschen in unserer Gegend.

Wikipedia übergeht übrigens die Internierung Sperbers, heisst es da doch einfach:
„…  flüchtete er im Herbst 1942 in die Schweiz. Nach Kriegsende 1945 kehrte Sperber nach Paris zurück.“
Rudolf Isler behandelt Sperbers Aufenthalt im Girenbad auf knapp zwei Seiten. Darin zitiert er Manès Sperber wie folgt: „In diesen Lagern, in denen die Internierten völlig rechtlos waren, wurde ihnen selbst der Versuch, sich zu beschweren, strengstens verboten, als ob die Beschwerde ein Akt der Meuterei wäre. Jene, die diese Lager so gewollt und geleitet haben, handelten im Sinne Adolf Hitlers.“ (S. 64)

Lukas Hartmann. Der Sänger. Diogenes Verlag AG. 2019
Rudolf Isler: Manès Sperber. Zeuge des 20. Jahrhunderts. Eine Lebensgeschichte Vorwort: Daniel Cohn-Bendit. 2. Auflage. Aarau: Sauerländer & Cornelsen 2004

De mortuis nil nisi bene

Klaus Bartels (1936 – 2020)

Klaus Bartels haben wir in einem Kurs in Wetzikon kennengelernt. Der Altphilologe begeisterte uns, und ich engagierte ihn als Redner an einer Vortragsreihe für Zürcher Schulbehörden. Klaus Bartels erläuterte mit einer Reihe Zitaten aus dem alten Rom, wie die damaligen Menschen über Schule und Bildung dachten und formulierte daraus abgeleitet kritische Bemerkungen zur aktuellen Bildungspolitik, die gerade durch das New Public Management durchgeschüttelt wurde. Bildungsdirektor Buschor äusserte sich nach dem Vortrag prompt säuerlich abschätzig «über diese Altphilologen». Später lud ich Klaus Bartels ein, an einem Gartenfest im Pestalozzianum aufzutreten. Dort zitierte und erläuterte er Einsichten und Anekdoten zur Schulung und Bildung aus dem klassischen Altertum. So etwa das Geläufige «Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir». Und erklärte dann schmunzelnd, dass Seneca ganz anders formuliert habe: «Non vitae, sed scholae discimus. Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir». Am gleichen Gartenfest referierte auch ein Deutschdidaktiker aus der Sicht von Dichtern aus dem 20. Jahrhundert. Er zitierte etwa Günther Grass: «Noch immer derselbe triste Notenmief» (In: Die unterbrochene Schulstunde).

In meinem Büchergestell stehen acht Bücher mit Wortgeschichten, geflügelten Worten und «Jahrtausendworte – in die Gegenwart gesprochen», in denen ich immer wieder gerne blättere und lese:

Veni Vidi Vici. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. 1992
Homerisches Allotria. Verlag NZZ. 1993
Wie Berenike auf die Vernissage kam. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. 1996
Wie der Steuermann im Cyberspace landete. Primus Verlag1998
Roms sprechende Steine. NZZ Verlag. 2000
Trüffelschweine im Kartoffelacker. Verlag Philipp von Zabern. 2003
Internet à la Scipio. Verlag Philipp von Zabern. 2004
Jahrtausendworte – in die Gegenwart gesprochen. Rombach verlag.2019

In einigen dieser Bücher findet sich eine Widmung «für Werner» von Klaus Bartels. So zum Beispiel: «Nunquam plus ago, quam cum nihil ago; numquam minus solus sum, quam cum solus sum.» Als Nichtlateiner hatte ich keine Ahnung, was das bedeutet, fand später aber in den Jahrtausendworten die Übersetzung: «Niemals tue ich mehr, als wenn ich nichts tue; niemals bin ich weniger allein, als wenn ich allein bin.» (Cicero. Über den Staat). Das passt doch nicht schlecht in diese Coronazeiten, finde ich.

Nun ist Klaus Bartels gestorben. Er wird mir fehlen, aber seine Bücher werden mich weiterhin begleiten. Es fällt mir überaus leicht, bei Klaus Bartels dem folgenden antiken Gebot zu folgen:

„Über die Toten soll man immer nur wohlmeinend, niemals übelwollend sprechen.“ [Klaus Bartels. Veni vidi vici S.60]

 

Drei lesenswerte Bücher

«Die Bücher im Regal reden miteinander». So ungefähr las ich es bei Umberto Eco, und ich erfahre immer wieder, dass es stimmt. In einer Gesprächsrunde über Literatur – die zu diesen Coronazeiten aufs Virtuelle verlegt wird – lesen wir von Angelika Overath «Ein Winter in Istanbul». Sie erzählt die Geschichte eines Engadiner Mittelschullehrers, der einen Studienaufenthalt in Istanbul verbringt und an einer Arbeit über Cusanus schreibt. Er ist verlobt mit einer schönen Churer Lehrerin, die, wie sich herausstellt, von ihm schwanger ist. Er aber verliebt sich in Istanbul in einen schönen, jungen, türkischen Mann und entdeckt, dass er schwul ist.

Ein Thema des Buches, nebst der Liebesgeschichte, ist das Verhältnis der beiden Religionen Christentum und Islam und zwar im Laufe der langen Geschichte Istanbuls oder von Konstantinopel oder Byzanz. Frau Overath lässt in ihrem Buch nebst anderen auch Llull und Cusanus auftreten, denn beide spielten eine Rolle in der Geschichte Istanbuls und beide plädierten auf wissenschaftlicher Basis erstaunlich früh für religiöse Toleranz. Und beiden bin ich bei früherer Lektüre schon begegnet.

Dem Spanier RamÓn Llull (1232 – 1316) begegnete ich auf Seite 609 in Dieter Kühns letztem Buch «Das magische Auge». Kühn baut Llulls Scheibe aus dessen «Ars magna combinatoria» nach und damit die Idee, dass in Gottes wohl geschaffener Welt alles mit allem irgendwie zusammenhängt und sich auf das Beste fügt.

Über Cusanus (1401 – 1464) las ich in George G. Szpiros «Die verflixte Mathematik der Demokratie», weil ich verstehen wollte, was «der doppelte Pukelsheimer» bedeutet. Nach der Lektüre schrieb ich auf meiner Homepage 2018 unter dem Titel «Grappa oder Limoncello – Bush oder Al Gore – Auf- oder Abrunden»:

«Im 15. Jahrhundert schlägt Cusanus ein Wahlverfahren vor, das er am Beispiel der Wahl des deutschen Kaisers erläutert, und das noch heute, zum Beispiel bei der Wahl des besten Eurovisionssongs, angewendet wird. Jeder Kandidat erhält von jedem Wähler eine Einstufung  (0 – 10 und dann 12 bei der Eurovision). Solche Verfahren erlauben „strategisches Wählen“. Rolf Nader von der grünen Partei hatte nie eine Chance, amerikanischer Präsident zu werden. Wer grün wählen wollte, wählte deshalb vernünftigerweise nicht Nader, sondern Al Gore, der auch ein bisschen grün war. Im Jahr 2000 waren aber zu wenige Wähler vernünftig, Nader erhielt zu viele Stimmen, Al Gore zu wenige, und Bush gewann. So eine Schande!! Cusanus, der eigentlich Nikolaus Krebs hiess und aus Kues an der Mosel stammte, hatte im Laufe seines Lebens eine riesige Bibliothek zusammengetragen. Im Zweiten Weltkrieg schonten die Alliierten Kues und verzichteten wegen dieser Bibliothek auf die Bombardierung des Städtchens. Cusanus war es übrigens, der beweisen konnte, dass die sogenannte Konstantinische Schenkung an den römischen Papst Silvester im 4. Jahrhundert eine Fälschung aus dem 8. Jahrhundert war.»

Wie gesagt, was da im Regal steht und einmal gelesen worden ist, das zwinkert sich manchmal im Kopf zu – wenn man Glück hat!

Angelika Overath. Ein Winter in Istanbul. Luchterhand. 2018. München

George G. Szpiro. Die verflixte Mathematik der Demokratie. Verlag NZZ. 2011. Zürich

Dieter Kühn. Das magische Auge. S.Fischer. 2013. Frankfurt am Main