Das Frühjahr 2020 kennt nur ein Thema

Am 5. März fahre ich mit meinem Freund per Bahn nach Bern an einen Stamm. Ein anderer Freund fehlt. Er finde Bahnfahrten in unserem Alter zu gefährlich und bleibe vorsichtigerweise zu Hause. Das gibt mir denn doch zu denken, und ich verzichte anderntags auf die Teilnahme an einem Literaturgespräch in Zürich, bin aber offenbar der Einzige aus der Gesprächsrunde, der ängstlich hinter dem Ofen bleibt. Unser Leben bleibt im Übrigen bis am 12. März normal: Coiffeurbesuche, die Zugehfrau putzt, und Herr Spitzli bringt Getränke und trägt sie in den Keller, und ich formuliere im Tagebuch: «Noch funktioniert die Welt normal.» Aber am Freitag, dem dreizehnten wird alles abgesagt: Konzerte, Theater, Vorträge – und dann schliessen die Beizen und die Geschäfte, nur die Lebensmittel- und Weinhandlungen bleiben zugänglich, und wir Alten sollen zuhause bleiben. Und uns isolieren. Onlinebestellungen für Hauslieferdienste sind sofort überlastet und funktionieren nicht mehr wirklich. Die Menschen kaufen wie verrückt Toilettenpapier.

Und mittlerweile – so etwa heute, am 25. März – steht die Schweiz praktisch still. Das Zürcher Seeufer ist abgesperrt. In den Zeitungen, in Radio und Fernsehen gibt es nur ein Thema: Corona. Ich sehe seltsame Bilder: Die Armee rückt ein, nicht in den WK, sondern in den „Ernstfall“, und die Soldaten stehen nicht etwa in Reih und Glied in Achtungstellung, sondern auf einer Wiese im lockeren Zweimeterabstand. Eine «Unterhaltungssendung» zeigt zwei Moderatoren in einer Kulissenstube – im Zweimeterabstand. Die Mikrofone, welche die Fernsehleute den Menschen ins Gesicht strecken, stecken auf zwei Meter langen Stäben und tragen Schutzmasken. Der Bundesrat tagt und beschliesst und informiert, Tag für Tag. Von links bis rechts, von schwarz bis grün applaudieren alle. [Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet – und das wird sich wohl auch ändern, je länger die Notlage dauern wird.] Ein hagerer, älterer, ruhiger Mann vom BAG wird zum Schweizer Gesicht der Pandemie.

Wir also als Teil einer Risikogruppe bleiben zuhause, schicken die Tochter in den Volg und erhalten von vielen Nachbarn Hilfsangebote und ein hübsches Blumentöpfchen zur Aufmunterung – ganz herzlichen Dank! Der Hometrainer macht Überstunden, und die Hände brauchen ganze Crèmetuben vom vielen Händewaschen.

Aber das wissen Sie ja längst alles, erleben es selbst. Ich setze es nur dahin, weil es zurzeit sonst nichts zu erzählen gibt, weil: Corona ist das dominierende Thema in diesem beginnenden Frühjahr 2020. Wird es eine Nachcoronazeit geben? Und wie wird die Welt dannzumal aussehen – und werde ich das noch erleben?

Im September 2020 leben wir noch immer in Coronazeiten und so rasch dürfte sich dies nicht ändern, fürchte ich.

Adolf Muschg im Klangmaschinenmuseum Dürnten

 

Die Lesung von Adolf Muschg Ende Januar 2020 im Klangmaschinenmuseum in Dürnten begeisterte mich. Eigentlich finde ich Lesungen von Autoren eher langweilig: Was sie lesen, lese ich lieber still und allein, was der Abend sonst bietet, ist meist eher banal: Die Vertreterin der organisierenden Institution, einer Bibliothek oder einer Kulturkommission, begrüsst den lesenden Gast, sagt etwas zu seiner Person, das meist allgemein bekannt ist, verweist auf den Büchertisch und den anschliessenden Apéro. Der Schriftsteller beantwortet oft recht lustlos pflichtschuldigst vorgetragene Fragen – und dann Weissweinglas zur Hand, Häppchen geschnappt, und der kulturelle Abend ist vorbei.

Diesmal war alles anders: Adolf Muschg zeigte sich begeistert vom Saal, in dem die Lesung stattfinden würde: Riesige und kleine Kirchweih- und Karussellorgeln standen da in grossartiger Farbenpracht rings im Saal des Klangmaschinenmuseums in Dürnten. So erzählte denn Adolf Muschg von seiner Kindheit, von der Begeisterung ob den Chilbiorgeln, und überhaupt: Dürnten und das Oberland! Sein Vater hätte viel vom Oberland erzählt, er habe einst im Oberland unterrichtet. Kein Wunder, dass der Funke zwischen dem gutgelaunten Schriftsteller und dem Publikum sofort übersprang.

Dann also die Lesung aus der «Heimkehr nach Fukushima». Schmunzelnd las der alte Mann. Immer wieder unterbrach er sich und erläuterte den Text: «Das habe ich nicht erfunden, das haben wir erlebt.» Oder: «Solche Puppen, solche Roboter werden bereits zur Altenpflege eingesetzt, sind billiger als Phillipinas.» «Das ist leider wahr: Junge Männer treffen sich zum gemeinsamen Selbstmord». An solchen Stellen wich das Schmunzeln dann einer tiefen, traurigen Ernsthaftigkeit. Kein Wunder, erinnert doch die Lektüre von «Heimkehr nach Fukushima» unweigerlich an Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl oder aktuellerweise eben auch an das Coronavirus, an Weltuntergangszenarien also. Und doch war der Leseabend geistreich und vergnüglich. 

Die Lesung war vorbei, man wechselte vom Hochdeutschen in die Mundart, und die Fragen an Muschg entlockten diesem ausführliche, gehaltvolle Antworten. Wie er denn überhaupt zum ersten Mal nach Japan gekommen sei? Wegen Emil Brunner, dem reformierten Theologen, obwohl er, Muschg, selbst eher Barthianer sei, wenn überhaupt! Mein Leben, so sagte er, kenne wie in einer Ellipse zwei Brennpunkte, Zollikon und Japan. Und er erzählte von den Kulturunterschieden zwischen Japan und Europa, von den sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen von Japanern und «uns». Man gehe aber nicht zu sehr ins Detail, denn seine japanische Frau sei auch da, und wenn sie ihn wirklich ärgern wolle, schimpfe sie: «Du Japankenner!»

Ganz am Schluss liess ein freundlicher Angestellter dann doch noch die riesige Orgel gewaltig scheppernd erklingen, vor der Adolf Muschg gelesen hatte. Fünfundachtzig Jahre alt ist er, ein gescheiter, wacher, noch immer neugieriger Zeitgenosse, ein wirklicher Citoyen! Chapeau, Monsieur Muschg! Und übrigens: Ein Besuch des Klangmaschinenmuseums in Dürnten lohnt sich unbedingt!

Über Literatur

Wieder einmal, wie schon vor etwa vier Jahren, landet das Gespräch unter uns Freunden beim Thema Literatur. «Hast Du als Student und im Berufsleben anderes als Fachliteratur gelesen?» «Eigentlich nicht.» Literatur dient der (gehobenen) Unterhaltung. Ich halte dagegen und erwähne den Roman Martin Salander, von dem ein befreundeter Historiker und guter Kenner des 19. Jahrhunderts mir sagte: «Wenn Du das Neunzehnte verstehen willst, lies den Keller!» «Da liest man doch besser ein historisches Sachbuch!» Auch mein Hinweis auf Josef Roths «Radetzkymarsch» hilft nicht weiter, obschon ich darauf bestehe, dass Passagen wie die folgenden die Zeit und die Gesellschaft des demnächst untergehenden Habsburgischen Kaiserreichs auf eindrückliche Weise beschreiben:

«Damals, vor dem grossen Krieg, … war es noch nicht gleichgültig, ob ein Mensch lebte oder starb. Wenn einer aus der Schar der Irdischen ausgelöscht wurde, trat nicht sofort ein anderer an seine Stelle, um den Toten vergessen zu machen, sondern eine Lücke blieb, wo er fehlte, und die nahen wie die fernen Zeugen des Untergangs verstummten, sooft sie diese Lücke sahen. Wenn das Feuer ein Haus aus der Häuserzeile der Strasse hinweggerafft hatte, blieb die Brandstätte noch lange leer. Denn die Maurer arbeiteten langsam und bedächtig, und die nächsten Nachbarn wie die zufällig vorbeikommenden erinnerten sich, wenn sie den leeren Platz erblickten, an die Gestalt und an die Mauern des verschwundenen Hauses. So war es damals! Alles, was wuchs, brauchte viel Zeit zum Wachsen; und alles, was unterging, brauchte lange Zeit, um vergessen zu werden.»

«Und es war, als trüge von nun ab auch jeder der überlebenden Offiziere das Merkmal eines nahen, gewaltsamen Todes in seinem Antlitz, und für die Kaufleute und Handwerker des Städtchens waren die fremden Herren noch fremder geworden. Wie unbegreifliche Anbeter einer fernen, grausamen Gottheit, deren buntverkleidete und prachtgeschmückte Opfertiere sie gleichzeitig waren, gingen die Offiziere umher. Man sah ihnen nach und schüttelte die Köpfe. Man bedauerte sie sogar. Sie haben viele Vorteile, sagten sich die Leute. Sie können mit Säbeln herumgehen und Frauen gefallen, und der Kaiser sorgt für sie persönlich, als wären sie seine Söhne. Aber eins, zwei, drei, hast du nicht gesehn, fügt einer dem andern eine Kränkung zu, und das muss mit rotem Blut abgewaschen werden! …» [Nachdem sich zwei duellierende Offiziere erschossen hatten.]

Dies spielt Wochen vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs. Roths Roman lässt mich die damalige Welt verstehen. Es war übrigens der eher den Sachbüchern zugeneigte Freund, der mir nach unserem Gespräch eine schöne Stellungnahme zum Roman, die er vor Jahren verfasst hatte, zukommen liess, und der mir einmal ein schönes Petrarca-Zitat zugestellt hatte:

«Gold, Silber, Edelsteine, purpurfarbene Gewänder, Häuser aus Marmor errichtet, gepflegte Landgüter, fromme Bildnisse, mit Schabracken geschmückte Streitrosse und andere Dinge dieser Art bieten wandelbare und oberflächliche Genüsse; Bücher aber machen Freude, die ins Mark trifft; sie sprechen zu uns, beraten sich mit uns, verbinden sich uns in lebendiger Intimität.»

Worauf ich mit Umberto Eco antwortete:

„In jedem Fall werden wir nicht darauf verzichten, literarische Fiktionen zu lesen, denn sie sind es, in denen wir nach einer Formel suchen, die unserem Leben einen Sinn gibt.“ [Eco: „Im Wald der Fiktionen“]

Man sieht, so ganz der Literatur abgeneigt ist der Freund auch nicht. Wir haben übrigens nicht nur über Martin Salander und den Radetzkymarsch diskutiert, sondern auch über zwei schmale Bücher von Annie Ernaux: «Die Jahre» und «Eine Frau». Dazu schrieb mein Freund: Das ist «Literatur, die ich verstehe und schätze. Dies hat mit meiner Erfahrung zu tun, dass ich ‘Literatur’ z. B. Werke von Nobelpreisträger/innen, kaum je verstehe.» Na! Lieber Freund!!

Ob ich so weit gehen darf, Sachbücher der Kategorie «Klugheit», Literatur jener der «Weisheit» zuzuteilen? Als Illustration: Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat sich begeistert über den Grünen Heinrich Kellers geäussert und andernorts festgestellt: «Freud was clever, Wisdom is something I never would expect from Freud.» Er selbst fürchtete, er gehöre wohl auch «nur» zur Klasse der Klugen.

Oder, weit weniger pompös und wie schon einmal hier zitiert (Dezember 2010):

Den letzten Abend im Rahmen der Ringvorlesung „Recht und Literatur: Fechtschulen und phantastische Gärten“ bestritt Frau Limbach, die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Unter dem Titel „Recht und Poesie“ zitierte sie Conrad Ferdinand Meyers Ballade „Die Füsse im Feuer“. Denn, so sagte sie: „Wir lesen unseren Kindern Balladen vor und nicht Gesetzestexte, um sie zu erziehen.“ „Wild zuckt ein Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm.“ …