Lesetipps

Alain Claude Sulzer

Aus den Fugen

Das Personal des Romans – ob ich da wohl alles richtig erkannt habe? :

  • Marek Olsberg: Starpianist
  • Astrid Maurer: Mareks rechte Hand
  • Claudius: ehemaliger Geliebter Mareks, dessen Agent, Geliebter von Nico
  • Nico: Geliebter von Claudius, den er verlässt und der zu Marek findet
  • Johannes: Vater und Freier von Bettina/Marina
  • Klara: Bettinas Mutter, geschieden von Johannes
  • Sophie: Klaras Freundin, Bettina/Marinas Gotte
  • Esther & Solveig: 2 Freundinnen
  • Thomas: Esthers Mann und Geliebter von ?
  • Klaus: geschieden von Sophie und nun Klaras Mann
  • Frau Bentz: reiche Mäzenin, «bestohlen» von Lorenz
  • Lorenz: Kellner und Dieb

Marek beendet sein Solokonzert vorzeitig, vor der Pause, mitten in einer Fuge. Die ganze Welt ist entsetzt. Auf seiner Flucht vor sich selbst, vor seinem Ruhm, vor seinem bisherigen Leben landet er in einer Beiz vor einem Bier, wo er Nico trifft, der im Streit mit Claudius geflohen ist. Die beiden verlieben sich sofort ineinander. Dann ist da noch die junge Hure, die als Escortdame mit ihrem Vater schläft, obschon sie ihn sofort erkannt hat, nicht aber er sie. Es gibt eigentlich für das ganze Personal ein glückliches Ende trotz all der Wirrnisse und Vögeleien. Sogar dem Dieb wird von der Bestohlenen seine Beute geschenkt, eine wahre Mäzenin! Der Roman ist unterhaltsam und sehr vergnüglich zu lesen, wirkt aber überkonstruiert. Doch ist der Plot wohl bewusst so überspitzt angelegt. Welchen grossartigen Zufall, welche unwahrscheinliche Begegnung könnte da noch beigefügt werden, scheint sich Sulzer immer wieder zu fragen, und er findet eben immer wieder etwas Abwegiges und noch Abseitigeres: lustig! Mein Lektürevergnügen war gross, sehr gross.

Alain Claude Sulzer: Aus den Fugen. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2012

Luc Boltanski

Rätsel und Komplotte

Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft

Boltanski analysiert die Kriminalliteratur und die Spionageromane und bringt sie in Verbindung zur gesellschaftlichen Entwicklung. Paradebeispiele bei den Krimis sind ihm Sherlock Holmes und Maigret. Dabei lerne ich viel über das Funktionieren eines aristokratischen liberalen Staates (England vor und im 1. Weltkrieg). Und dass Maigret ein typischer Kleinbürger sei, erfunden von einem leicht antisemitischen Simenon. Letzteres erinnert mich an zwei Eisenbahn­fahrten: Von Bern zurück nach Zürich in Begleitung von Uri Peter Trier, Präsident der Pädagogischen Kommission der EDK, der in einem Streitgespräch mir vorwirft: «Du bist eben ein Kleinbürger!» (Ob ich deshalb Maigret schätze?) Und von Zürich nach Bern in Begleitung von Eugen Egger, Generalsekretär der EDK. Wir trinken ein Fläschchen Wein, das ich bezahle. Sagt Eugen: «Siehst du, wir fahren fast zum ersten Mal miteinander im Zug, du bezahlst. Mit Uri fahre ich seit Jahren zwischen Bern und Zürich hin und her, der hat noch nie bezahlt. Ein richtiger Jude! (Und in der Tat: Uri war Jude – und ich ein Kleinbürger?)

Im Laufe der Lektüre habe ich einige Notizen zu Passagen gemacht, die mich beeindruckt haben. Das Buch ist im Übrigen viel zu reich (und mir viel zu kompliziert), als dass ich eine ausformulierte Beschreibung liefern könnte.

Seite 214
Zivilgesellschaft: «Erst die Verknüpfung von Öffentlichkeitsgebot in Bezug auf die öffentliche Hand und Diskretionsgebot für das Privatleben erlaubt die Ausbildung von so etwas wie einer «Zivilgesellschaft».» (vgl. die derzeitige Aufregung um eine Erpressung von BR Alain Berset.)

Seite 237
Der Spionageroman: «Was der Spionageroman uns sagen will, sein eigentlicher Antrieb, ist, dass der Staat sich immer im Krieg befindet, immer bedroht, immer fragil ist, selbst wenn die gewöhnlichen, das heisst blinden Leute das nicht wissen. Oder aber, wenn man so will, dass es zum Wesen des Staates gehört, sich im Krieg zu befinden.»

Seite 165
«Die Hauptaufgabe der Verwaltung besteht darin, das Fortbestehen der Verwaltung zu gewährleisten.» Ich habe lange genug in der Bildungsverwaltung gearbeitet um das voll und ganz bestätigen zu können.

Seite 167
Lehrer: «die Grenze zwischen dem Lehrer, der in ethischer und religiöser Hinsicht als neutral geltende Kenntnisse vermitteln soll (wie das Erlernen des Rechnens und des Lesens*), und dem Erzieher, der moralische Werte vermittelt und im umfassendsten Sinne Weltanschauungen prägt, [ist] sehr unscharf. Und das ist zweifellos auch der Grund, warum der Lehrkörper besonders streng überwacht wird und es dauernd zu Konflikten kommt.» Das wurde zwischen 2008 und 2011 geschrieben, also lange vor der Enthauptung eines Pariser Lehrers.

Seite 105
Und die folgende Passage ist von coronabedingter hoher Aktualität: «… wenn die Umstände es erfordern, das heisst, wenn der Staat sich gefährdet sieht und sich deshalb ein Recht auf Notwehr gewährt, kann die ungewisse Grenze zwischen Normalität und Legalität noch weiter verschwimmen.»

*Peter Bichsel:    Die Schule lehrt die Buchstaben. Lesen lernen muss man später selbst!

Seite 318
Donald Trump: «Charakteristisch für den Paranoiker … ist sein Widerstand gegen das Scheitern, sein leidenschaftlicher Kampf gegen die Unbilden des Lebens, in denen er feindselige Einflüsse erkennt.»

Seite 146
Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett: «Die ursprüngliche Kriminalerzählung reizt die Ordnungsliebhaber zunächst, um sie im nächsten Schritt zu besänftigen. Als Lektüre, die den einsamen Momenten vor dem Einschlafen vorbehalten ist, fesselt sie unsere Aufmerksamkeit nur für eine gewisse Zeit, um uns kurz darauf umso besser schlafen zu lassen.»

Seiten 139
Sie nimmt Bezug auf Robert Louis Stevensons «Dr. Jekill and Mr. Hyde». Das war mein allererster Film, den ich im Kino gesehen hatte nach einem langen Fussmarsch von Dietikon ins Kino Schlieren  Hier findet sich paradigmatisch die narrative Konstruktion, in der «sich gerade die sich als vollkommen harmlos darstellende und damit über jeden moralischen Zweifel erhabene, am wenigsten verdächtig wirkende Figur als im höchsten Masse amoralisch und kriminell erweist.»

Seite 147
Kapitalismus: «Der von der ursprünglichen Kriminalerzählung inszenierte Widerspruch, der von ihr aufgedeckt und im gleichen Zug wieder verdeckt wird, ist also nichts anderes als der Widerspruch, in den der Rechtsstaat gerät, wenn er auf eine kapitalistische Klassengesellschaft trifft.»

Seite 409
Paranoia und Soziologie: «Wenn nämlich das deutlichste Zeichen, an dem man eine der Paranoia bezichtigte Person erkennt, darin besteht, dass sie historische oder persönliche Ereignisse dem Handeln grossflächiger Entitäten zuschreibt, denen sie eine Art von Intentionalität und Handlungsvermögen zuspricht, wie soll man dann vermeiden, dass ähnliche Anschuldigungen gegen die Soziologen gerichtet werden? Entwickeln diese nicht ebenfalls narrative Dispositive, in denen zum Beispiel soziale Klassen, wirtschaftliche Interessengruppen, Lobbys, Systeme, Strukturen, Milieus, Organisationen usw. vorkommen, denen sie manchmal durchaus Absichten … unterstellen …»

Seite 168
Der Mensch ist verdächtigt: «Der Polizist ist «ein gewöhnlicher Mensch» geblieben, das heisst ein potenzieller Straftäter.» Das erinnert natürlich an Dürrenmatt, bei dem nie klar ist, wer Wärter und wer Gefangener ist.

Einige analysierte Romane:
Natürlich die Romane von Doyle, Simenon, Christie, Poe, London, Stevenson, Conrad, Chandler, Ambler. Von ihnen allen habe ich tatsächlich mindestens einen Roman gelesen.
Und ganz am Schluss liefert Boltanski eine überzeugende Analyse zu Kafkas «Der Prozess».

Diese blosse Aneinanderreihung von Zitaten zeigt, wie sehr mich das Buch überfordert hat. Hätte ich nicht schon vorher ein bisschen Foucault, Bourdieu, Hacking und Weber gelesen, ich wäre vollkommen verloren gewesen. So hat mir die Lektüre trotz Überforderung doch viel Spass gemacht.

Luc Boltanski. Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2153. 2015
Titel der Originalausgabe: Énigmes et complots. Une enquête à propos d’enquêtes. Editions Gallimard. Paris 2012

Hansjörg Schneider

Silberkiesel

Ich lese zum ersten Mal einen Kriminalroman von Hansjörg Schneider, kannte bislang nur Verfilmungen mit Matthias Gnädinger und bin nun überrascht von der Schärfe der sozialen Analyse Schneiders. Grossartig! Und offensichtlich absolut aktuell: 1993 erschien dieser Krimi in Basel, 1993 wurde der Platzspitz in Zürich geschlossen.

In diesem Roman herrscht häufig schlechtes Wetter, es regnet in Strömen, es schneit, die Strassen sind vereist, die Kanalisation ist überfordert. Und es wird sehr viel geträumt. Der Diamantenschmuggler Kayat träumt, Kriminalkommissär Hunkeler träumt, der türkische Kanalarbeiter Civil und seine Freundin Erika träumen und die Diamanten landen in der Kanalisation, wo sie Civil herausfischt, der nun von den reichen Bösewichten gejagt und geschlagen wird. Der ganz grosse Traum vom Reichtum, vom Hotelbau in der Türkei platzt. Erika spült die Diamanten wider in die Kanalisation Und Hunkeler? Der tut eigentlich nichts und gewinnt am Schluss doch die Partie.

Der Roman wurde 1993 veröffentlicht: Silberkiesel. Hunkelers erster Fall. Hansjörg Schneider lässt Hunkeler raisonieren: «Das Hauptproblem, das wusste Hunkeler schon lange, war die Kriminalisierung des Heroins. Solange Heroin nicht frei und zu einem vernünftigen Preis erhältlich war, würde es auch das Fixerelend geben.» Und Hunkelers Freundin: «Vor zwei Wochen haben sie in Zürich den Platzspitz geschlossen, wo wollen die Drögeler jetzt hingehen? Bei diesem Wetter? Die können sich nicht in eine Beiz setzen und einen Zweier Heroin bestellen. Ich verstehe das nicht.» «Die Polizei war kein demokratisches Machtmittel mehr in dieser Stadt, dachte Hunkeler, mit dem die Minderheiten, zum Beispiel die Jugend, geschützt wurden, sondern die Polizei war ein Machtmittel der Mehrheit geworden, das unter dem Vorwand der Legalität dazu eingesetzt wurde, die Minderheiten zu unterdrücken.»

Bernhard Schlink
Abschiedsfarben

Von Bernhard Schlink habe ich bereits einmal «Die Frau auf der Treppe» gelesen. Da verbindet Schlink seine Figuren mit dem Maler Duchamp. Auch dieses Mal gehört sein Personal einer gehobenen, sehr gebildeten Schicht an. Es sind Figuren, die meist zur Literatur, zur Philosophie oder zur Musik neigen, Lehrer, Schriftsteller, Kunsthistoriker. Nur in der Anfangserzählung agieren zwei Informatiker aus der ehemaligen DDR. «Abschiedsfarben» schildert in neun Erzählungen die unterschiedlichsten Formen von Verrat, Verlust, Versagen, vom Ende von Beziehungen, von Verwirrungen und Verwicklungen. Verweise auf andere Romane und Schriftsteller dienen dabei der Reflexion über die Situationen. Zitiert werden Chandler, Mann, Tolstoi, Nietzsche, Frisch oder Shaw. Da sich die Figuren oft in wirklich tragischen Situationen finden, werden natürlich auch religiöse Referenzen herbeigezogen wie Augustinus oder Spinoza und schliesslich auch Matthäus mit der Erzählung über Lots Töchter. In allen Geschichten geht es um Sexualität. Die Frauen übrigens sind meist gross, hell und halten sich gerade, und sie sind den Männern überlegen. Bernhard Schlink ist Jahrgang 1944: Psychologisierende Altmännerliteratur wie bei Martin Walser, nur irgendwie feiner, zarter, anständiger? Denn geschossen wird nicht wirklich!
Bernhard Schlink: Abschiedsfarben. Diogenes Zürich. 2020

Annie Ernaux
Mémoire de fille

Après avoir écouté « Les années » il y a quelques années, j’ai lu cet été « Mémoire de fille ». Le livre a paru quelque mois avant « metoo » et il est beau de voir comme une féministe raconte ses expériences sexuelles d’une manière aussi différenciées comme Annie Ernaux dans son récit de l’été 1958, l’été de sa première expérience sexuelle. C’était un viol ? On n’employait pas ce terme. On parlait de la perte de la virginité. Et de cela on avait vraiment peur.

Déjà les premières lignes du roman présentent l’essentiel de ce qui se passe à la jeune femme : « Ni soumission ni consentement, seulement l’effarement du réel qui fait tout juste se dire « qu’est-ce qui m’arrive » ou « c’est à moi que çà arrive » sauf qu’il n’y a plus de moi en cette circonstance, ou ce n’est plus le même déjà. Il n’y a plus que l’Autre, maître de la situation, des gestes, du moment qui suit, qu’il est seul à connaître. Puis l’Autre s’en va, vous avez cessé de lui plaire, il ne vous trouve plus d’intérêt. Il vous abandonne avec le réel, par exemple une culotte souillée. »

L’été 1958 c’était l’été de Dalida et sa chanson ‘Mon histoire c’est l’histoire d’un amour’. Il y a des chansons tout le long du livre : chansons d’Aznavour, de Brassens, de Bécaud (Le jour ou la pluie viendra) etc. Les chansons de ma jeunesse aussi – Ernaux est de trois ans mon ainée.

Jaime le style d’Ernaux. Une fois, elle dit de ses parents : « Avec une vague pitié, elle les trouvera vieux. » [« Elle », c’est la fille qu’était Annie en 1958. Dans ce roman, Annie fait la différence entre « je », Annie, qui écrit ce livre, et « elle », la fille de 58.] Ce passage se trouve d’une façon analogue dans le roman « Stoner » de John Williams ou Stoner dit de ses parents: « he felt a mixed pity for them and a distant love ». Ceci dit, j’entends dire Umberto Eco : «Die Bücher im Regal reden miteinander!»

J’aime beaucoup la manière d’Annie Ernaux de raconter sans trop juger les autres, sans le fondamentalisme de beaucoup de féministes de nos jours. C’est une très bonne lecture ! Et je cite mon ami, le romaniste, qui dit: „Annie E. est une grande dame et qui a crée une littérature de souvenir et de réflexion de la condition humaine-féminine. J’ai avalé presque tous ses livres. Même si ses prises de positions sont toujours claires, elle n’est jamais « féministe » au sens négatif ; sa littérature n’est pas une « littérature de valeurs », mais une littérature de réflexion féminine– ce qui est rare dans la littérature allemande.“

Annie Ernaux : Mémoire de fille. Gallimard. Collection Folio. 2016

Le roman est traduit en allemand. Erinnerung eines Mädchens. Suhrkamp. Berlin 2018

Existenzkrise der Demokratie

Jens Hacke

Mit dem Untertitel: Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Ich war mit der Lektüre von Lewinskys Melnitz beschäftigt, als mich die NZZ auf Hacke aufmerksam machte, zu einer Zeit als wir am Stammtisch die Krise der Demokratien in Europa – Ungarn, Polen, Deutschland, auch unsere eigene! – diskutierten und schlussfolgerten: «Europa ist in der Scheisse!» Hackes Schluss der Einleitung bringt unsere Stammgespräche auf den Punkt:
„Die Selbstverständlichkeit, mit der lange Zeit die Stabilität, Vernünftigkeit und auch die universale Übertragbarkeit der liberalen Demokratie mitsamt ihrer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung angenommen worden ist, hat sich verflüchtigt. Das Misstrauen gegenüber supranationalen Institutionen, die Sehnsucht nach kraftvoller politischer Führung im Nationalstaat, die Kritik am Parteiensystem, die Angst vor dem Fremden – diese nicht nur beiläufigen Phänomene rufen vertraute Problemkonstellationen auf und rücken die liberalen Streiter von damals [gemeint ist die Weimarerzeit] wieder näher an die Gegenwart.“
Hacke hofft, sein Werk  helfe „bei der Suche nach neuen und besseren Begründungen der Demokratie“. In der Tat!

Das Werk überforderte mich, aber ich biss mich durch und lernte meinen Namensvetter Hermann Heller kennen, einen berühmten Staatsrechtler der Weimarer Zeit. Hackes Ausführungen zu den Brüdern Mann revidieren meine Ansichten zu den Manns in durchaus positivem Sinn. Erschlagen haben mich Hackes Register: Er führt etwa 340 Werke als Quelle seiner Arbeit auf, von denen ich nur gerade zwei von Max Weber gelesen habe. Das Register der Sekundärliteratur umfasst ungefähr 520 Werke, von denen ich bloss Tony Judts «Nachdenken über das 20. Jahrhundert» und Bloms «Der taumelnde Kontinent» gelesen habe. Was mich am Buch fasziniert, sind Formulierungen wie etwa die folgenden: «Dass Liberalismus und Kapitalismus untrennbar zusammengehörten, dieses Bewusstsein prägte von jeher die Sicht auf den Liberalismus als Idee.» «Das ist das ungeheuer Schwere in der Politik der Demokratie, dass sie grundsätzlich und mit aller Kraft für Industriefortschritt, [für wirtschaftlichen Fortschritt, würden wir heute sagen] Regelung der Produktion und Steigerung des Ertrags eintreten muss, und dass sie gleichzeitig gezwungen ist, sich der heutigen Industrieleitung [Wirtschaftsführung] entschieden entgegen zu stellen.» [Leicht verändert:] Dass verfassungsmässig verbriefte Freiheiten dazu missbraucht werden können, die demokratische Ordnung selbst zu beseitigen, ist ein ärgerliches Paradox. «Das demokratische Paradox, welches bekanntlich darin besteht, dass per Mehrheitsentscheid demokratische Prinzipien und Freiheiten abgeschafft werden können.» [Siehe Ungarn, Polen und die USA heute!] Hacke zieht ein sehr pessimistisches Fazit unserer aktuellen Lage, wenn er schreibt: «In mancherlei Hinsicht scheinen also die Hoffnungen des demokratischen Liberalismus nach 1989 nicht weniger illusionär als diejenigen rund sieben Jahrzehnte zuvor.» Alles in allem: Eine sehr schwierige und sehr lohnende Lektüre!

De Rousseau à Starobinski

Roger Francillon

Le sous-titre: Littérature et identité Suisse. Roger Francillon relit « des écrivains dans une perspective identitaire, du 18e siècle à nos jours. » Depuis quand la Romandie existe-t-elle ? [Est-ce que cela ne nous rappelle pas « La Suisse n’existe pas » lors de l’exposition mondiale en Espagne ? Ramuz : « Comment parler de la Suisse qui est un pays qui n’existe pas »?] J’y trouve un très jolie passage qui est consacré à Mme de Staël : « Madame de Staël et la Suisse : un tombeau ou un refuge ? »
Jusque à maintenant je n’avais jamais entendu parler d’Alexandre Vinet. Il est en quelque sorte un prédécesseur de Wittgenstein, me parait-il : « L’acquisition de la langue maternelle forme pour la plupart des hommes la partie la plus considérable de la culture qu’ils pourront jamais posséder. » En revanche Wittgenstein : « 5.6 Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. » (Tractatus logico-philosophicus). L’article sur Vinet me montre aussi la version française du commencement de l’Evangile de Jean (Jean I, 3) : « toutes choses ont été faites par la parole, et rien de ce qui a été fait n’a été fait sans elle. » Die neue Zürcher Bibel Johannes 1, 3 : « Alles ist durch ihn [den Logos] geworden, und ohne ihn ist auch nicht eines geworden, das geworden ist. » Donc Logos au lieu de parole !
Si je ne connaissais pas Vinet, d’autres écrivains présentés par Francillon me sont plus ou moins familier : Blaise Cendrars, Jacques Chessex, Benjamin Constant, Anne Cuneo, Philippe Jacottet, Guy de Pourtalès, Charles Ferdinand Ramuz, Gonzague de Reynold, Denis de Rougemont, Jean Jacques Rousseau et Yvette Z’Graggen . Bien que je ne les ai pas lus sauf Rousseau, Cendrars, Ramuz et Chessex.
Le 30 mars [2013 – année dans laquelle ce texte a été rédigé], je commande « L’Ogre » de Jacques Chessex et « La pêche miraculeuse » de Guy de Pourtalès. Roger Francillon propose de lire de Jean-Jacques Langendorf « La nuit tombe, Dieu regarde » (2010) et de Anne-Lise Grobéty « L’Abat-jour » (2008). « De Rousseau à Starobinski » est une lecture fascinante !

Heimat ist die schönste Utopie

Robert Menasse: Reden (wir) über Europa
edition suhrkamp. Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Eine der dreizehn Reden trägt den Titel „Bildung von Demokratie“. Darin findet sich das Bonmot: „Das sind … die beiden Bruchstücke, die vom universalen Bildungsideal übrig blieben: Ausbildung und Bodybuilding.“ Oder, unmittelbar vorher: „… zwei Institutionen, die den alten bildungspolitischen Anspruch erfüllten, für möglichst alle möglichst barrierefrei zugänglich zu sein: Das ist die Fachhochschule und das Fitness-Center.“ In der Rede „Zukunftsmusik“ findet sich ein weiteres Bonmot: „Ein Nationalökonom als wirtschaftspolitischer Berater ist daher heute so absurd wie ein Pferdeflüsterer als Berater der Automobilindustrie.“ Menasse wehrt sich wie ich gegen die Rede vom Bürger als Kunde des Staates. Sein wichtigstes Thema über beinahe alle seine Reden über Europa: „Das ‚Friedensprojekt EU’ ist im Kern ein Projekt zur Überwindung der Nationalstaaten.“ Nur: Niemand wagt das wieder als politische Vision zu proklamieren. Alle verteidigen sie den Nationalstaat. Die Finanzkrise? „Betrachtet man das Problem [Griechenland, die südlichen Staaten der EU] durch die nationale Brille, ist es riesig. Betrachtet man das Problem europäisch – ist es verschwunden. Das griechische Defizit beläuft sich auf zwei Prozent des europäischen Bruttosozialprodukts. Das soll von Europa nicht zu bewältigen sein? Kalifornien wäre froh, nur diese Schulden zu haben. „ Die Aussenhandelsbilanz Europas sei positiv, sagt Menasse. „Wo also ist das Problem?“ Es tut wahrlich gut, wieder einmal einen gescheiten, wohlinformierten und mutigen EU-Befürworter zu lesen!

Ein  Königshaus aus der Schweiz

Die  Habsburger, der Aargau und die Eidgenossenschaft im Mittelalter.

Bruno  Meier. hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte. 2008

Heute  lesen wir viel in den Zeitungen über die Habsburger im Aargau. Diese  zusammenfassende Darstellung einer wichtigen europäischen Dynastie  rückt solche Einzelberichte ins richtige Licht. Es korrigiert auch  das Bild von der Entstehung der Schweiz aus dem Kern der  Bundesbeschwörer von 1291 und 1315, das wir der mythisch überhöhten  Geschichtsschreibung des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit  verdanken. Die Entstehung der Eidgenossenschaft wird hier vom Rand  her erzählt, also vom Aargau, Thurgau oder Elsass her: so tun sich  ganz neue Blickwinkel auf. Sehr lesenswert, finde ich!

Gründungszeit  ohne Eidgenossen

Politik  und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300

Roger  Sablonier. hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte. 2008

Sablonier  schreibt im Nachwort: Es „ist heute nachgewiesen, dass die  sogenannte Befreiungstradition, also die Erzähltradition über die  Anfänge, bestehend aus Tellentat, Rütlischwur, Untaten der bösen  Vögte und Volksaufstand im Burgenbruch, sich erst im ausgehenden 15.  Jahrhundert definitiv herausgebildet hat.“ „Nicht umsonst waren  die mythischen Vorfahren zu allen Zeiten Gegenstand einer fruchtbaren  historischen Imagination … Man denke an den Denkmalrecken Tell und  an die kluge Stauffacherin, Personen, die in allen Einzelheiten, …,  schlicht erfunden sind.“ „Es ist eine imaginierte,  mittelalterliche Geschichte, die für die moderne, nationale Schweiz  so bedeutend geworden ist.“ „Die Schweiz ist weder 1291 noch 1848  entstanden. Sie entsteht immer wieder von Neuem.“ Ich empfehle das  Buch für alle, die sich für die Geschichte unseres Landes  interessieren und keine Angst vor wissenschaftsnahen Texten haben.

Geschichte der Schweiz

Thomas Maissen. hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte. Baden 2010

Wer sich einen raschen Überblick über den heutigen Stand der Schweizer Geschichte verschaffen will, der greife zu Maissens Geschichtsbuch. Er gliedert die Geschichte anders, als meine Generation das noch in der Schule gelernt hat – die Trias 1315 – 1515 – 1815, die ja in diesem Jahr 2015 wieder brandaktuell ist, kommt so nicht vor. In der Einleitung schreibt Maissen: „Die schweizerische Geschichte ist also reich an Konflikten und keine Saga der Harmonie in einem einig Volk von Brüdern.“ Zwölf Kapitel umfasst das gut 300 Seiten starke Buch:
Städte und Länder im Heiligen Römischen Reich (13. und 14. Jahrhundert)
Konflikte bei der Territorienbildung (1370 – 1450)
Auf der Suche nach Grenzen (1450 – 1520)
Die Glaubensspaltung (16. Jahrhundert)
Eintritt in die Staatenwelt (17. Jahrhundert)
Reformbemühungen und ihre Grenzen (18. Jahrhundert)
Revolution, Einheitsstaat, Föderalismus (1798 – 1813)
Durch Vertragsbruch zur Verfassung (1813 – 1848)
Das bürgerliche Zeitalter (Zweite Hälfte 19. Jahrhundert)
Zwischen den Extremen (Erste Hälfte 20. Jahrhundert)
Konkordanz und kalter Krieg (Zweite Hälfte 20. Jahrhundert)
1989 – und die Folgen (Die Jahrtausendwende)

Freitag oder die Angst vor dem Zahltag

Arthur Honegger
Benziger Verlag. Zürich, Köln. 1976

Honegger erzählt von der  Verelendung eines Dorfes (im Zürcher Oberland!) während der Krisenjahre um  1932, von Arbeitslosigkeit, Fabrikschliessungen, von Verschuldung der Kleinbauern,  vom Aufkommen des Frontismus. (Nicht alle Bewohner eines Zürcher Oberländer  Industriedorfes haben deshalb das Buch Honeggers geschätzt: Sie erkannten sich  darin wieder – und das gefiel ihnen gar nicht! „Freitag oder die Angst vor dem  Zahltag“ ist Honeggers zweiter erfolgreicher Roman nach dem Erstling „Die  Fertigmacher“ (1974).

Dürnten. 1250 Jahre  Ortsgeschichte

Markus Stromer       Herausgegeben vom Gemeinderat Dürnten,. Sommer 1995       Bezugsquelle: Gemeindeverwaltung Dürnten, Einwohnerkontrolle.  Fr. 49.-

Zum Inhalt

In dreiundzwanzig Kapiteln wird von vielen Autoren die  Geschichte Dürntens ausgebreitet.

Einige Titel:

– Unguete Reden zo Dürnten
– Almosengenössige und Einzugsbriefe: Eine schwierige Zeit
– Hungrig und unzufrieden: Dürnten um 1800
– Zuwachs aus der Fremde
– Leute, die Dürntens Bild prägten
Reiches Fotomaterial – ab ca. 1900 bis 1995 – veranschaulicht  die Entwicklung Dürntens im Laufe der Jahre.

Im Kapitel „Wie Tann zu seinem Bahnhof kam“ findet sich  übrigens ein interessanter Hinweis auf die Garderobengebäude am Eisfeld im Zihl  hinter unserer Siedlung, also „ännet em Bahndamm“. Von 1930 bis 1950 stand eine  Wartehalle aus Holz am Bahnhof Tann. Sie wurde 1950 durch das heutige  Bahnhofgebäude ersetzt. Von nun an diente sie dem Eishockey-Club im Zihl als  Garderobegebäude, allerdings mit Anbauten ergänzt, welche das ehemals elegante  Gebäude eher verunstalteten. Nun, im heutigen Zustand spielt das wohl keine  Rolle mehr.

Züri Oberland

Land und Lüüt
Otto Eggmann, Hans Rudolf Wiget, Jakob Zollinger
Buchverlag der Druckerei Wetzikon AG. 1988
ISBN 3-85981-146-0

Zum Inhalt:
Das Zürcher Oberland – was ist das eigentlich?
Der Vorhof – Die Seenlandschaft
Das Zentrum: Die Passlandschaft
Die Herzkammer: Das Tössbergland
Sehr reichhaltiges Fotomaterial, wenig, aber informativer  Text

Eine Landschaft und  ihr Leben: das Zürcher Oberland

Vom Tierhag zum  Volkiland       Herausgegeben von Bernhard Nievergelt und Hansruedi Wildermuth       Hochschulverlag AG an der ETH Zürich. 2001       ISBN 3-7281-2689-6
Zum Inhalt:
Landschaft und …
… Naturraum
… Mensch
… Pflanzen- und Tierwelt
… Wohnen
… Kulturlandschaft
… Industrie
… Landwirtschaft
… Forstwirtschaft
… Sprache und Sprachlandschaft
… Dichtung
… Religion
…Zukunft – Visionen
Wissenschaftlicher, aber gut verständlicher Text, sehr reiches Kartenmaterial; eine wirklich umfassende, bis in die Gegenwart reichende Darstellung des Zürcher Oberlandes

Die industrielle  Revolution im Zürcher Oberland

Von der industriellen Erschliessung zum Industrielehrpfad
Buchverlag der Druckerei Wetzikon AG, zweite Auflage 1990
ISBN 3-85981-132-0

Zum Inhalt:
Von der Handarbeit zur Industrie
Denkmäler der industriellen Revolution
Vom Wasserrad zur Turbine
Das Aathal als Zentrum der schweizerischen Baumwollspinnerei
Leben und Arbeit am „Millionenbach“
Der Industrielehrpfad
Eine gut lesbare, umfassende Darstellung der Industrialisierung im Oberland, ein Führer durch den Industrielehrpfad samt einem touristischen Guide.

Europe Central

William T. Vollmann

An einer Matinee in der Tonhalle wurde Schostakowitsch gespielt und aus Vollmanns Europe Central gelesen. Der Text faszinierte mich, so kaufte ich die knapp tausend Seiten und bade seither darin. Das Buch porträtiert Figuren aus dem Zweiten Weltkrieg, der Zeit des Nationalsozialismus und des Stalinismus, Figuren wie

  • Anna Andrejewna Achmatowa, Dichterin
  • Hilde Benjamin, DDR-Richterin, die „rote Guillotine“
  • Reinhard Gehlen, Gründer der Organisation Gehlen und des BND
  • Kurt Gerstein, SS-Mann, der die Welt über die Judenvergasungen informieren wollte
  • Roman Lasarowitsch Karmen, russischer (Propaganda-)Filmemacher
  • Käthe Kollwitz, Künstlerin
  • Friedrich Paulus, Generalfeldmarschall in der Schlacht um Stalingrad
  • Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch, Komponist [Hauptfigur]
  • Andrei Andrejewitsch Wlassow, Generalleutnant im 2.Weltkrieg, der die Fronten wechselte

Die Lektüre ist zwar manchmal anstrengend, aber immer lohnend. Unheimlich, was Menschen in der Zeit zwischen 1920 und 1970 in Zentraleuropa erdulden mussten!

Der Roman zelebriert die Botschaft, dass Figuren wie die oben erwähnten durchaus in der Lage sind, Geschichte zu machen!

[Aus dem amerikanischen Englisch von Robin Detje. suhrkamp taschenbuch 4516. Berlin 2012]