Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert

 

Aufklärung! Das bedeutete mir immer: Benütze deinen Verstand; der Mensch ist ein Vernunftwesen; Denken befreit. Und ich erinnere mich an einen Satz des damaligen aargauischen Erziehungsdirektors Armin Gretler: „Hinter die Errungenschaften der Französischen Revolution gehen wir nicht zurück – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ Und die Revolution war ja wohl ein Ergebnis der Aufklärung.

Nun aber streicht mir Steffen Martus auf fast tausend Seiten in seinem Epochenbild wieder jene Szene um den Bart, wo Klopstock („dieser Beatnik der Aufklärung“) mit jungen Männern und Frauen bei einer Bootsfahrt auf dem Zürichsee einen „Tag der Freude“ feiert und damit zum Ärger Bodmers den Zeitgenossen zeigt, was „Empfindsamkeit“ bedeutet. So enthält denn das dicke Werk auch eine präzise Analyse von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“. (Auf Martus‘ Werk habe ich bereits im Beitrag Lettres à une princesse d’Allemagne vom Dezember 2016 hingewiesen.)

Das 18. Jahrhundert in Deutschland ist geprägt durch die Rivalität zwischen Österreich und Preussen, zwischen Maria Theresia und Friedrich dem Grossen, zwischen katholischen und protestantischen Fürstentümern und Königreichen. Somit gibt es denn auch eine katholische und eine protestantische Aufklärung. Kein Wunder, dass auch die Gretchenfrage, wie man es denn mit der Religion halte, die Zeitgenossen sehr beschäftigte. Angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Weltall und die Vielzahl von Welten, die es darin gebe, müsse man sich doch fragen, ob Jesus deren Bewohner alle auch mit erlöst habe!

Was ist Aufklärung? Das Buch gibt vielfältige Antworten. Unter anderen zitiert es natürlich auch jene berühmte von Kant:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. … Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Max Frisch – und er war und ist bei weitem nicht der Einzige – diagnostizierte allerdings: „Die Aufklärung hat versagt“. Und bitter zitiert Ljudmila Ulitzkaja einen russischen Werbespruch: «Sie denken noch? Wir sehen fern.» (NZZ vom 6.3.2017) Ich bin geneigt, solchen Pessimismus zu teilen, angesichts des Umgangs des amerikanischen Präsidenten mit Wahrheit und mit wissenschaftlich erhärteten Theorien und angesichts des Zulaufs einer Marine Le Pen oder eines Geert Wilders.

Zurück zu Steffen Martus. Was er da alles in breiter Fülle und grosser Tiefe ausbreitet, ist beinahe erdrückend. Selbst wer einigermassen über „die Aufklärung“ Bescheid zu wissen glaubt, lernt bestimmt noch Vieles hinzu. Mir beispielsweise war neu, wie lange Voltaire am Hofe Friedrichs des Grossen gearbeitet hat. Ich lese, dass in den modernen Armeen Friedrichs die Deserteursquote ungemein hoch war. So wird denn auch Ulrich Bräker, der arme Mann im Tockenburg, kurz erwähnt. Ich hatte auch wieder vergessen, dass Winckelmann in Triest ermordet worden war, wahrscheinlich von einem „Call boy“, würden wir heute sagen. Das liest sich so: „Am 1. Juni 1768 kam Winckelmann in Triest an, wo er inkognito logierte und einen arbeitslosen Koch und Verbrecher namens Francesco Arcangeli kennen lernte. … Arcangeli warf Winckelmann eine Schlinge um den Hals, um ihn zu erdrosseln … Es kam zum Handgemenge. Winckelmann wehrte sich mit aller Macht. Als Arcangeli mit einem Messer auf ihn eindrang, packte er die Klinge mit blosser Hand. Dann stürzte er unglücklich, und der Angreifer vollendete sein Werk mit sieben Stichen in den Oberkörper seines Opfers. Einer der grössten Gelehrten Europas verendete jämmerlich nach sechs qualvollen Stunden.“ (Seite 704)

Steffen Martus „Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – Ein Epochenbild“. Rohwolt. Berlin. 2015

 

Italienische, deutsche und französische Grammatik

Einer meiner Freunde wohnt in Zürich und in Mailand, wo er jedes zweite Wochenende von Freitag bis Montag verbringt, wo er viele Bekannte und Freunde hat. Logisch, dass er perfekt Italienisch spricht. Nun ist er pensioniert, greift wieder zu seinem Lieblingsinstrument, probt und spielt in einem Orchester in Zürich, unterhält noch, wie so viele, einige berufliche Projekte – und besucht einen Italienischkurs in der Volkshochschule. Ich schaue ihn verblüfft an, mein ganzer Körper ein einziges Fragezeichen. „Ja, schwatzen kann ich schon, lesen kann ich alles, Dante kann ich geniessen. Aber die Grammatik! – Allerdings merke ich, dass ich für diesen Kurs schon etwas überqualifiziert bin.“

Die Grammatik! Grammatik? Kenne ich mich da noch aus? Ich habe mich ja seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr darum gekümmert, weiss nur noch, da gab es einen Glinz und das Adverb scheint es seither nicht mehr zu geben; und Haupt- und Nebensätze? Und stirbt der Genitiv tatsächlich aus?

Fast eher kommen mir aus der Schulzeit noch Begriffe aus der französischen Grammatik in den Sinn: L’accord du participe passé, le conditionnel, la concordance des temps, l’emploi du subjonctif. Le subjonctif ? Le voici :

Ell’ me tendit ses bras, ses lèvres
Comme pour me remercier
Je les pris avec tant de fièvre
Qu’ell’ fut toute déshabillée.

Le jeu dut plaire à l’ingénue
Car à la fontaine souvent
Ell’ s’alla baigner toute nue
En priant Dieu qu’il fît du vent
Qu’il fît du vent.

Georges Brassens. Dans l’eau de la claire fontaine. 1962

Greife ich zum Duden – ist der überhaupt noch verbindlich? Klärt mich die NZZ auf, die ja die neue Rechtschreibung nicht zur Gänze mitmachen soll? Soll ich nun in einen Volkshochschulkurs in deutscher Grammatik eintreten – und wäre ich da wohl auch „überqualifiziert“? Oder kann ich auf grammatisches Wissen schlicht verzichten und mich als deutscher Muttersprachler ganz auf das Sprachgefühl verlassen?

Ein Duden steht nicht mehr in meinen Bücherregalen. Also setze ich mich vor den Computer und lese: Man unterscheide zwischen normativen und deskriptiven Grammatiken. Als Lehrer wandte ich die normative an und strich alles, was grammatisch falsch war, rot an: Ha! Jetzt scheint mir die deskriptive wesentlich sympathischer zu sein: „Es erfolgt in dieser Perspektive dann keine Unterscheidung in ‚gutes Deutsch‘ (das verwendet werden soll) und ‚falsches bzw. schlechtes Deutsch‘ (als etwas, das vermieden werden soll), sondern strittige grammatische Erscheinungen können ggf. bestimmten Sprechstilen, Textsorten oder sozialen Gruppen als typisch zugeordnet werden, aber ansonsten aus neutraler Warte dokumentiert werden.“ [Quelle: WikipediA, woher denn sonst?] Und also beruhigt und ohne Angst vor dem Rotstift „surfe“ ich ein wenig in deutschen Grammatikbegriffen herum:

Über die genaue Anzahl und Einteilung der Wortarten des Deutschen besteht keine vollständige Einigkeit. Ist das nicht hübsch? Da scheint es also durchaus Raum für Interpretation zu geben, und das finde ich spannend. Aber keine Angst, ich werde Sie nicht weiter mit Grammatik belästigen. Lieber mit Brassens:

On n’a plus rien à se cacher
On peut s’aimer comm’ bon nous semble
Et tant mieux si c’est un péché
Nous irons en enfer ensemble !
Il suffit de passer le pont,
Laisse-moi tenir ton jupon.

Georges Brassens. Il suffit de passer le pont. 1953

 

500 Jahre Reformation

Heftli und Zeitungen überbieten sich dieser Tage mit der Korrektur des tradierten Zwinglibildes: Er sei nicht der Hohepriester der Lustfeindlichkeit gewesen, schreiben sie. Er sei witzig, aufgeschlossen, begabt und sehr gebildet gewesen. Ein liebender Ehemann und freundlicher Vater von vier Kindern. Franz Rueb, der eine neue Zwingli-Biografie geschrieben hat, betont darin, dass Zwingli die wohl schönste Frau Zürichs geheiratet habe.

Auch wenn in einer Zeitung im Kommentar zu Ruebs Biografie zu lesen ist, Zwingli sei kein Zwinglianer gewesen, bleibt mir dennoch das Bild des Bilderstürmers und des Kriegsmannes. Jedenfalls gilt für Zürich bis weit in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein: Eine ordentliche, saubere, rechtschaffene, brave Stadt, die beileibe nicht durch Freude und Lust, Übermut und Lebensfreude besticht. Und ich zitiere wieder einmal Max Weber: „Als ein Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte geht der Gedanke der „Berufspflicht“ in unserem Leben um.“ In „Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus“. (Wobei Weber vor allem Calvin im Auge hatte.)

Aufgewachsen in einer protestantischen Familie war es uns Kindern verboten, an der Fasnacht teilzunehmen, diesem „katholischen, unzüchtigen Treiben“. Dafür erduldeten wir die sonntägliche Kinderlehre in einer kahlen, kalten Kirche.

Im Zürcher Oberländer finde ich ein Interview mit Hans Zoss, ehemaliger Pfarrer und Direktor der Strafanstalt Thorberg. Zwei Passagen haben mich darin besonders beeindruckt:

„Wer Theologie studiert hat, weiss, wie die biblischen Schriften zustande kamen, wie sie einander widersprechen und dass man sie nicht wörtlich nehmen darf und kann, sondern ernst.“

„Ich bin ein Oben-ohne-Theologe. Ich glaube nicht, dass es einen Gott als Wesen gibt, das meinen Alltag steuert. Warum traut man sich nicht offen zu sagen, dass Gott vielleicht eine Chiffre für Hoffnung, für Mut ist? Albert Schweitzer hat von einem universalen Willen zum Leben gesprochen. Dem kann ich als Theologe am ehesten ‚Gott’ sagen.“

Franz Rueb. Zwingli. Widerständiger Geist mit politischem Instinkt. Hier und Jetzt Verlag. 2016

Zürcher Oberländer vom Samstag, 7. Januar 2017 (S.21)