Was fiel mir schönheitstrunkner Seele ein?

« Sans la musique la vie serait une erreur ». Dieser Satz von Nietzsche prangte auf einem Tiischi, das wir unserem Sohn, der im Keller sein Schlagzeug bearbeitete, aus Dijon nach Hause brachten. Solche Sätze lassen sich wohl beliebig variieren: Ohne die Liebe wäre das Leben ein Irrtum. Ohne feinen Wein … Und da wären wir ja beim Strauss-Walzer „Wein, Weib und Gesang“.
Näher liegt mir persönlich die Variante „Ohne Poesie wäre das Leben ein Irrtum“. Anknüpfend an Nietzsche und Strauss zitiere ich ein Bisschen Unsinn von Morgenstern:

Die Fledermaus
Kurhauskonzertbierterrassenereignis
Die Fledermaus
Hört ‚sich’ von Strauss.
Der Bogen-Mond
Wirkt ungewohnt.
Es rührt ihr Flugel
Die Milchglaskugel.
Der Damen Schar:
„Mein Hut! Mein Haar!“
Sie stürzt, wirr – worr –
‚nem Gast ins Pschorr.
Der Pikkolo
Entfernt sie: -: so-:…
Die ‚Fledermaus’
Ist grade aus.

Natürlich befasst sich auch die Poesie, nicht nur die Musik, mit der Liebe und damit mit dem „Weib“ aus dem Walzertext. Allerdings nicht nur in weinseliger oder frühlingshafter Hochstimmung. Das hier kennt man ja:

Und der wilde Knabe brach
‚s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Musst es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Peter von Matt fragt sich wohl zu Recht, weshalb „man seit zweihundert Jahren mit Rührung und Entzücken von dem Gedicht“ spreche, das alles andere als ein Liebesgedicht sei. Dieser Goethe!

Aber jetzt kommt der Frühling wirklich, und wir wollen nichts von Weh und Ach hören und zitieren Mörike:

Er ist’s
Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte;
süße, wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon, wollen balde kommen.
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s! Dich hab ich vernommen.

Ist das zu kitschig, zu harmlos? Also dann zu Mani Matter und den Abzockern.

Dene wos guet geit
Dene wos guet geit
Giengs besser
Giengs dene besser
Wos weniger guet geit
Was aber nid geit
Ohni dass’s dene
Weniger guet geit
Wos guet geit
Drum geit weni
Für dasss es dene
Besser geit
Wos weniger guet geit
Und drum geits o
Dene nid besser
Wos guet geit

Übrigens: Der Titel ist dem Gedicht „Was fiel mir ein?“ von Robert Walser entnommen (letzte Zeile).

Wer Lust auf noch mehr Gedichte hat, lese nach in:
Christian Morgenstern. Alle Galgenlieder
Peter von Matt. Wörterleuchten (Daraus stammt auch das obige Zitat zu Goethe.)
Peter von Matt und Dirk Vaihinger. Die schönsten Gedichte der Schweiz (wo sich auch das Walser-Gedicht findet)

Auch das soll hier seinen Platz haben

Ende Jahr schickte Werner mir noch eine Mail: „Ich führe das Leben eines (antriebslosen) Paschas und gehe von Chemo zu Chemo, mit den verschiedenen Nebenwirkungen, was aber weniger schlimm ist, als es tönt, solange nichts schief läuft.“
Wir zwei Werners waren zusammen in der Berufsausbildung, besuchten gemeinsam Friedrich Dürrenmatt in Neuchâtel, frequentierten die gleiche literarische Diskussion achtmal jährlich, trafen uns dann und wann im Literaturhaus und versicherten uns unserer Urteile immer wieder per Mail.
So schrieb ich ihm einmal:
„Vor einer Woche, anlässlich der Diskussion über „Sieben Jahre“ von Peter Stamm meintest Du, wir müssten einmal die Diskussion darüber führen, dass unsere Generation zwar Werte beseitigt, aber keine neuen vermittelt hätte. Heute nun, wie ich den gestrigen Abend Revue passieren lasse, merke ich, dass wir beim Wein die Gelegenheit dazu verpasst haben, schliesslich hätte uns Leo Perutz mit seinem „Der schwedische Reiter“ einen schönen Vorwand geliefert, über bürgerlich-republikanische und protestantische Werte zu debattieren.
Welche Werte haben wir denn verjagt? Eben diese bürgerlich-protestantischen? Fleiss, Disziplin, Gehorsam, Sparsamkeit, Anerkennung der Berufspflicht (Max Weber: ‚… als ein Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte geht der Gedanke der ‚Berufspflicht’ in unserem Leben um.’)?
Der unbedingte Gehorsam war und ist uns Feind, die Sparsamkeit hat tatsächlich gelitten, beinahe ausgelitten, die Disziplin in der Form der Selbstdisziplin ist zwar noch anerkannter aber kaum gelebter Wert, und ‚ohne Fleiss kein Preis’ gibt es auch fast nur noch im Kabarett (César Keiser in ‚Odysseus der Zweite’).
So. Und was setzen wir nun an die Stelle von Gehorsam und Sparsamkeit? Mit Gespräch, mit Einsicht, mit Demokratie wollten wir, geprägt von den Fünfzigerjahren, (Kadaver-)Gehorsam und das Ducken in Hierarchien überwinden, glaube ich. Aber Fleiss und Sparsamkeit sind wohl tatsächlich dem Hedonismus geopfert worden.
Ja, es ist schwierig, rückblickend nicht völlig illusionslos zu werden. So scheint es auch Urs Widmer zu gehen: (Urs Widmer. Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück. Diogenes. Zürich 2002)
‚Die Werte der Sieger sind gut, die Werte der Verlierer schlecht. Es gibt kein Sowohl-als-auch. Es gibt keine Ambivalenz. Die Harten von damals sind die Coolen von heute, und die Alphatiere von heute joggen um sechs Uhr früh durch den Wald, um gesund zu sein, gesund und kompetitiv, und man hat auch bei ihnen zuweilen den Verdacht, dass sie in den Nicht-so Gesunden und weniger Kompetitiven, wie einst die Faschisten, unwertes Leben sehen.
Im Modell der modernen Ökonomie schlummert also faschistisches Denken. … Früher gab es – die Älteren unter Ihnen werden sich daran erinnern – den Begriff der entfremdeten Arbeit, weil man sich eine nicht entfremdete Arbeit immerhin noch vorstellen konnte. Heute ist der Begriff verschwunden … Wer aber hat als Zwölfjähriger davon geträumt, ein Corporate Key Relationship Manager zu werden?’
Ja, lieber Werner, wir sollten wirklich einmal über verlorene, zerstörte, fehlende, vermisste, wieder gefundene, neu erfundene, zukunftsträchtige Werte diskutieren.“
Doch jetzt ist es zu spät.

Voilà – eine Schutzgöttin

Nach einem Besuch einer Ausstellung im Kunsthaus Zürich – wie wir das Haus verlassen, reicht die Schlange der Eintritt Begehrenden weit auf das Trottoir hinaus – fahren wir über die Forch nach Dürnten zurück. Am Hegibachplatz rechterhand steht ein frisch renoviertes Haus mit der grünen Leuchtschrift MINERVA. Nanu, die Minerva ist doch eine Privatschule im Universitätsviertel. Steht am Hegibach eine neue Zweigstelle, etwa für angehende Altphilologen oder Historiker? Nein, es handelt sich hier um eine Apotheke. Was haben eine Schule und eine Apotheke gemeinsam? Beide berufen sich auf die römische Göttin Minerva – lang, lang ist’s her –, welche mit der Zeit ihre griechische Vorgängerin, die Athene, ersetzte. Minerva war Schutzgöttin der Dichter und Lehrer (aha!), Göttin auch des Wissens und der taktischen Kriegsführung (!). Gleichen deshalb die alten klassischen Schulhäuser Kasernenbauten? Immerhin, die Minerva hatte ein Einsehen mit den Kindern: „Teilweise war es üblich, dass am Fest der Minerva kein Schulunterricht stattfand.“ (WIKIPEDIA) Das wäre der 19. März, der auch 2012 nicht in die Ferien fällt: mal sehen!
Was ist denn mit der Apotheke? Es hat offenbar auch eine Minerva Medica gegeben, Schutzgöttin der Ärzte.
Die Minerva ist ja wohl kaum mehr aktiv, ist quasi längst pensioniert, existiert nur noch als Statue, in Bildern oder Erzählungen. Lehrer und Ärzte sind halt oft recht bildungsbeflissen und schmücken sich gerne mit so alten Figuren und Geschichten. Oder haben sie am Ende doch das Gefühl, sie hätten eine Schutzgöttin nötig und wenden sich deshalb an die strategisch so begabte Minerva? Auf welcher Seite steht denn diese Göttin im Streit zwischen Ärzten und Apothekern? Man weiss es nicht – und die Göttin schweigt …
Minerva

… und ruht sich vor dem Zoologischen Museum der Uni Zürich aus!