Die Poesie der exakten Wissenschaften

In einer emaillierten Diskussion unter Freunden schrieb ich einmal: „Ich finde, Mathematiker und theoretische Physiker sind nebst Amseln an einem schönen Frühsommerabend die poetischsten lebenden Märchenerzähler.“ Man lese nur einmal einige Seiten von Stephen Hawking, auf denen er von Schwarzen Löchern oder Wurmlöchern berichtet und erfreue sich an Sätzen wie: „Ein Astronaut, der in ein schwarzes Loch fällt, wird irgendwann in Form von Teilchen und Strahlung, die das Schwarze Loch beim Verdunsten emittiert, recycelt.“ Oder aber, diesmal nicht von Hawking: „… this theorem states that a solid of any size, say of a small pea, can be partitioned into a finite number of pieces and then reassembled to form another solid of any specified shape and volume, say that of the sun. Consequently, this paradoxical theorem of Stefan Banach and Alfred Tarski is sometimes referred to as ‘the pea and the sun paradox’. (Leonard M. Wapner: The Pea and the Sun. Seite xii. A K Peters Ltd. Wellesley, MA. 2005) – Siehe auch meinen Beitrag vom Oktober 2010. Weshalb fällt mir das jetzt wieder ein? Unlängst las ich in einem NZZ-Folio einen Satz, bei dem ich dachte, da formuliert wieder einmal ein Mathematiker, nämlich Nick Bostrom von der Oxford University, einen modernen Mythos: “Wenn es gelingt, die Künstliche Intelligenz zu zähmen, werden unsere Nachfahren dem Untergang unseres Planeten ungerührt aus den fernen Galaxien zuschauen, die sie bis dahin erobert haben werden.“

Nun stosse ich in einem Aufsatz von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 2002 mit dem Titel „Die Poesie der Wissenschaft“ auf ganz ähnliche Feststellungen. Darin zitiert er Karl Weierstrass (1815 – 1897): „Ein Mathematiker, der nicht zugleich ein Stück von einem Poeten ist, [wird] niemals ein vollkommener Mathematiker sein.“ Gegen Ende seines Aufsatzes schreibt Enzensberger:

Man kann „die Behauptung riskieren, dass die avancierteste Wissenschaft zur zeitgenössischen Form des Mythos geworden ist. Gleichsam hinter dem Rücken ihrer eigenen Ideologie kehren in ihren Konzeptionen, von den meisten Forschern unbemerkt, alle Ursprungsfragen, Träume und Alpträume der Menschheit in neuer Gestalt wieder. Ihre Metaphern sind nur der sprachliche Ausdruck dieser Mythenproduktion. … Unsichtbar wie ein Isotop, das der Diagnose und der Zeitmessung dient, unauffällig, doch kaum verzichtbar wie ein Spurenelement, ist die Poesie auch dort am Werk, wo niemand sie vermutet.“

Enzensbergers Aufsatz findet sich in der Sammlung „Über Literatur“. Suhrkamp Quarto 2009.

Neben „Über Literatur“, diesem gewaltigen Papierberg von fast tausend Seiten, steht ein schmales Bändchen von Enzensberger in meinem Regal: „Die grosse Wanderung“ aus dem Jahr 1992. Dies ist nach meiner Ansicht noch immer die stimmigste und überzeugendste Analyse des aktuellen Dramas, dem wir den Titel „Flüchtlingsströme“ geben. Enzensbergers Hauptthese lautet: Sesshaftigkeit ist die Ausnahme, Bewegung, Wanderung, Turbulenz die Regel: „Der normale Zustand der Atmosphäre ist die Turbulenz. Das gleiche gilt für die Besiedlung der Erde durch den Menschen.“ Bloss sechzig Seiten weiter bereits die Schlussfolgerung: „Je heftiger sich eine Zivilisation gegen eine äussere Bedrohung zur Wehr setzt, je mehr sie sich einmauert, desto weniger hat sie am Ende zu verteidigen. Was aber die Barbaren angeht, so brauchen wir sie nicht vor den Toren zu erwarten. Sie sind immer schon da.“ Enzensbergers Grosse Wanderung empfehle ich unbedingt zur Lektüre.

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