Meine Lektüre 2017

Mein Freund schickt mir ein sehr schönes Petrarca-Zitat:

«Gold, Silber, Edelsteine, purpurfarbene Gewänder, Häuser aus Marmor errichtet, gepflegte Landgüter, fromme Bildnisse, mit Schabracken geschmückte Streitrosse und andere Dinge dieser Art bieten wandelbare und oberflächliche Genüsse; Bücher aber machen Freude, die ins Mark trifft; sie sprechen zu uns, beraten sich mit uns, verbinden sich uns in lebendiger Intimität.» (Stephen Greenblatt zitiert und übersetzt nach: John Addington Symonds, The Renaissance in Italy, 7 Bde., orig. 1875-1886)

Francesco Petrarca, der Renaissance-Gelehrte aus dem 14. Jahrhundert (1304 – 1374) findet ein spätes Echo bei Umberto Eco (1932 – 2016):

Ich zitiere aus „Im Wald der Fiktionen“: „In jedem Fall werden wir nicht darauf verzichten, literarische Fiktionen zu lesen, denn sie sind es, in denen wir nach einer Formel suchen, die unserem Leben einen Sinn gibt.“

Beide, Petrarca und Eco, sprechen mir aus der Seele. Deshalb also: Herzlichen Dank, lieber Freund, für die Stimme aus dem Mittelalter. Sie erinnert mich daran, dass ich die Absicht hatte, über meine Lektüre im Jahr 2017 zu berichten. Nun denn: Welche Bücher bereiteten mir «Freude, die ins Mark trifft»?

Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild. (Rowohlt Berlin. 2015) Aufklärung! Das bedeutete mir immer: Benütze deinen Verstand; der Mensch ist ein Vernunftwesen; Denken befreit. Und ich erinnere mich an einen Satz des damaligen aargauischen Erziehungsdirektors: „Hinter die Errungenschaften der Französischen Revolution gehen wir nicht zurück!“ Und die Revolution war ja wohl ein Ergebnis der Aufklärung.

Nun aber streicht mir Steffen Martus in seinem Epochenbild wieder jene Szene um den Bart, wo Klopstock („dieser Beatnik der Aufklärung“) mit jungen Männern und Frauen auf dem Zürichsee einen „Tag der Freude“ feiert und damit den Zeitgenossen zeigt, was „Empfindsamkeit“ bedeutet. So enthält denn das dicke Werk auch eine präzise Analyse von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“.

Franz Rueb: Zwingli. Widerständiger Geist mit politischem Instinkt. (Hier und Jetzt Verlag. 2016) Franz Rueb ist nicht Theologe, auch nicht Historiker, sondern Journalist. Das Buch ist denn auch mehr Lesebuch als wissenschaftliche Abhandlung. Aber er präsentiert ein sehr differenziertes Bild des Reformators und malt ein stimmiges Bild von den Umständen und den gesellschaftlichen Situationen während der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, insbesondere in der Eidgenossenschaft. Eindrücklich belegt Rueb, dass Zwingli ein europaweit angesehener und korrespondierender Intellektueller war. Mir wird bei der Lektüre wieder einmal deutlich, wie schwer es uns Heutigen fällt, die Menschen jener fernen Zeit wirklich zu verstehen. Ein hervorragendes Buch, finde ich!

Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert. (Hanser. 2010) «Die Rückkehr des politischen Intellektuellen» heisst der Untertitel. Und behandelt werden unter anderen Arthur Koestler, Primo Levi, Albert Camus, Hanna Arendt. Interessant sind auch die Essays, die unter dem Titel «Das amerikanische (Halb-)Jahrhundert» gebündelt sind, etwa jener zur Kubakrise oder der andere über Henry Kissinger. Judt diagnostiziert präzise den «merkwürdigen Tod des liberalen Amerika». In der Tat ist Judt ein engagierter und überzeugter Sozialdemokrat, ein Befürworter des demokratischen Sozialstaates, leidenschaftlicher Gegner des Kommunismus und scharfer Kritiker Israels, letzteres ist nachzulesen in «Ein düsterer Sieg – Israel und der Sechstagekrieg». Fast alle Essays (oder gar tatsächlich alle?) sind Buchrezensionen. Mir gefällt Judt wie immer. Ich habe das Buch in der nicht sonderlich sorgfältig lektorierten deutschen Übersetzung gelesen, anders als seinerzeit «Postwar».

Soweit sind dies alles Sachbücher. Wo bleibt die Fiktion, die Umberto Eco so lobt?

Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt. (C.H.Beck. 2016) Eine traurige, dramatische, dichte, fesselnde, niederschmetternde Geschichte. … Vieles ist stark zugespitzt, wirkt farbig inszeniert, quasi bereit für Drehaufnahmen. Die Schilderung der Leprakolonie in Rumänien oder die Erzählung, wie der Mann, der das Glück bringt, Kinder ermordet, sind grossartig schauerlich, unbegreiflich, unvergesslich. Nein: Ein erbauliches Buch ist das nicht. Doch steckt in diesem Text Vieles an Literatur- und Kulturgeschichte, an mythischen Denkräumen, …

Zora del Buono: Gotthard. (C.H.Beck. 2015) Baustelle Südportal des neuen Eisenbahnbasistunnels. Geschildert werden Menschen während eines Vormittags. Es sind dies:

  • Fritz Bergundthal, ein Eisenbahnfan, der aus Berlin angereist ist, um Züge im Tessin zu fotografieren.
  • Robert Filz, Tunnellokführer, Spanner und reger Benutzer des örtlichen Bordells, verliebt in die schweren Brüste Mônikas.
  • Dora Polli-Müller, pensionierte Kantinenbetreiberin, lebenslustige, etwas schräge alte Frau in Bikini und Stöckelschuhen, wohnhaft an der Kantonsstrasse und unter der Autobahnbrücke. Sie wehrt sich verzweifelt dagegen, als Frau nicht mehr wahrgenommen zu werden.
  • Flavia Polli, die Tochter. Ein Mannweib, eine Lesbe, verliebt in Mônika, Lastwagenfahrerin.
  • Aldo Polli, der nicht mehr am Tunnel mitarbeitet, weil er beim Bau des Strassentunnels einen Kameraden ermordet und die Leiche in die Felswand eingemauert hatte. Er wird am Ende des Buches auf völlig bizarre Weise getötet: Ein Transporthelikopter verliert ein Kanupaddel, das ihn erschlägt, ihm den Kopf vom Rumpf trennt und Kopf samt Helm in Bergundthals Hände wirft. Aldo war aktiver Drogenhändler.
  • Tonino di Torino, Aldos Kumpel, Aldos Mittäter und Drogenlieferant. Er dient als Illustration dafür, was mit Männern geschieht, wenn sie heiraten.
  • Thomas Oberholzer aus Cotbus, auch er misslich verheiratet, ein Bünzli, der nun zum ersten Mal in seinem Leben zu einer Hure geht, zu Mônika. Nicht aus Lust, sondern aus Trotz gegen seine Frau.
  • Mônica das Neves Teixeira, die brasilianische Hure im Tal.

Man kann die Erzählung auch so lesen: Die Heilige Barbara sorgt für Gerechtigkeit. Und so: Zora del Buono verführt uns in die Welt der alten Griechen: Dora Polli-Müller als Penelope, Aldo Polli als Odysseus, Filz, der den Verkehr mit dem Hades besorgt, und die Götter, die in die Händel der Menschen eingreifen.

 

Und weiter: Albert Camus. L’étranger. Und Michael Köhlmeier. Das Mädchen mit dem Fingerhut. Oder Annie Ernaux. Les années. ETC.

 

 

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