Sainte-Beuve

Lange Zeit veröffentlichte die NZZ jeden Dienstag eine Kolumne des in Amerika lebenden britischen Historikers Niall Ferguson. Die Kolumne erschien jeweils in einer britischen Zeitung und in der NZZ exklusive in deutscher Übersetzung. Ich las sie immer mit grossem Interesse, mit Genuss und Gewinn und sandte sie dann elektronisch einem meiner Freunde, der Tagileser ist, und der sich mit der samstäglichen Tagi-Schachspalte revanchiert – die NZZ vernachlässigt uns Schachspieler sträflich. Sie wird sich wohl denken, es gäbe für uns genug Möglichkeiten, uns im Netz zu tummeln mit Worldchess, Chessbase und anderem.

Einmal schrieb mir mein Freund: «Schon eindrücklich, worüber er [Ferguson] alles Bescheid weiss. Ich möchte einmal wissen, wie solche Artikel entstehen. Gibt es da ein „Büro“, das Artikel in seinem Auftrag verfasst und nach seinen Ideen recherchiert, oder kann der Tausendsassa Solches einfach aus dem Ärmel schütteln?»

Oh, antwortete ich ihm, so aussergewöhnlich ist das nicht. Da gab es im 19. Jahrhundert einen Charles-Augustin Sainte-Beuve (1809 – 1869), der zwischen 1849 und 1869 – ausser in den Jahren 1857 -1861 – jeden Montag seine «Causerie du Lundi» publizierte. Um dies präzise belegen zu können, blätterte ich wieder einmal im Buch «Sainte-Beuve» von Wolf Lepenies – und es ergeht mir wie so oft: Ich stecke immer noch in diesen gut 600 Seiten, die mir die Geschichte und die Literatur Frankreichs des 17., 18. und 19. Jahrhunderts aufs eindrücklichste und farbigste nahe bringen. Hier ein kurzer Ausschnitt aus dem Buch von Lepenies über die Arbeitsweise Sainte-Beuves:

Ein Bild, das Text, Zeitung enthält.

Automatisch generierte Beschreibung

Auf Das Buch von Lepenies bin ich seinerzeit als begeisterter Proustleser gestossen, dessen „Recherche du temps perdu“ in einer ersten Arbeitsphase „Contre Sainte-Beuve“ hiess. Schon damals fragte ich mich, wer dieser Sainte-Beuve denn gewesen sei und stiess auf die „Causeries du Lundi“.

Sainte-Beuve war lange Zeit mit Victor Hugo befreundet, bevor sich die beiden zerstritten. (Adèle Hugo und Sainte-Beuve verliebten sich ineinander.) Victor Hugos Umgang mit Sainte-Beuve, der seinen Skeptizismus in Glaubensdingen schliesslich nicht mehr verbarg, prägte Hugos Roman «Notre Dame de Paris» massgeblich in Richtung auf eine Vision einer glaubensentleerten Moderne. Ein Kapitel des Romans ist überschrieben mit «Ceci tuera cela»: Das Buch tötet die Kathedralen!

So ganz nebenbei: Ich diskutierte mit meinem Freund einmal über Zwinglis Wurstessen, weil er in einer Zürcher Metzgerei eine Schweinsbratwurst gekauft hatte mit dem Aufdruck «Zwingliwurst 1519» und ich ihn darauf aufmerksam machte, dass dieses Essen bei Froschauer erst 1520 stattgefunden habe und zwar mit einer geräucherten Wurst, also einer Art Landjäger. Zwingli war zwar dabei, ass aber nicht mit. 1868 ass Sainte-Beuve am Karfreitag mit Freunden, dem Prinz Napoleon, Taine, Renan und Flaubert Fleisch. Flaubert: «Sainte-Beuve ass Karfreitags immer nur Fleisch und Wurst.» Dieses Wurstessen, das «Abendmahl in der Rue du Montparnasse, wurde zu einem Skandal des Empire,» schreibt Wolf Lepenies.

Wolf Lepenies. Sainte-Beuve. Carl Hanser Verlag. München Wien. 1997

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert