Die bedeutendste Nebensache der Welt

Ein langer TV-Abend widmete sich der Wahl des Schweizer Sportler des Jahres. Dabei sinnierte ich

über die Bedeutung des Sports …

… in der Kultur

Ein Fussballmatch im San Siro Stadion sei als kulturelles Ereignis absolut vergleichbar einer Aufführung in der Scala zu Mailand. Sagte niemand geringerer als der Leiter der Abteilung Schule & Kultur des Kantons Zürich, Franco Sonanini, der teils in Zürich, teils in Mailand wohnte. Ein Gesangsdidaktiker schwärmte, es stimme doch gar nicht, dass niemand mehr singen würde. Man höre sich nur die Gesänge in den Fussballstadien an!

… in der Politik

Joachim Riecker berichtete in der NZZ vom 17. Juni aus einem NZZ-Podium in Berlin, das sich der Frage widmete, wie der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit das Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz geprägt hätten. Sein abschliessendes Zitat lautete: „Nach dem Ersten sowie dem Zweiten Weltkrieg und nach der Wiedervereinigung hat die deutsche Fussballnationalmannschaft ihr erstes Länderspiel jeweils gegen die Schweiz bestritten.“ – Soweit Arnulf Scriba vom Deutschen Historischen Museum. Noch Fragen zum Stellenwert des runden Leders – das schon lange vor Blatters Waterloo keines mehr war?

… für den Wissenskanon

Im Ratespiel des Schweizer Fernsehens „Die Millionenfalle“ verlor ein Kandidatenpaar alles Geld, weil es die folgende Frage nicht beantworten konnte: „Bei welchen dieser Clubs spielte in der Saison 2014/15 keiner der drei Schweizer Rodriguez-Brüder?“ Das Paar setzte fast eine Million auf die drei Clubs FC St. Gallen, VfL Wolfsburg, FCZ, jedoch kein einziges Paket (immerhin 25’000) auf den FC Thun. Doch Thun wäre die richtige Lösung gewesen. Muss man doch nicht wissen! Nein! Es sei denn, du machst an einem Quiz mit, und es ist dir nicht egal, beinahe eine Million nicht zu gewinnen.

… in der Gesellschaft

Ariella Kaeslin, die international äusserst erfolgreiche Kunstturnerin, die immerzu strahlende und lächelnde Vorzeige-Spitzensportlerin, Vorbild für so manches junge Mädchen (vor allem in den Augen ihrer Trainer und Eltern), gesellschaftlich in einer absoluten Spitzenposition – sie war dreimal Schweizer Sportlerin des Jahres – berichtet nun über ihre zwanzig Jahre Sportlerleben, über Beschimpfungen und Demütigungen durch Trainer, über den totalen Verlust an Individualität, darüber, wie man sie beinahe gebrochen hätte, wie sie beinahe zerbrochen wäre und wie sie am Ende ihrer Karriere buchstäblich vor dem Nichts stand – nichts konnte, nichts wusste, psychiatrische Hilfe brauchte – der ganz extreme Fundamentalismus des Sports!
Und ich zitiere einmal mehr Urs Widmer: „Die Werte der Sieger sind gut, die Werte der Verlierer schlecht. Es gibt kein Sowohl-als-auch. Es gibt keine Ambivalenz. Die Harten von damals sind die Coolen von heute, und die Alphatiere von heute joggen um sechs Uhr früh durch den Wald, um gesund zu sein, gesund und kompetitiv, und man hat auch bei ihnen zuweilen den Verdacht, dass sie in den Nicht-so Gesunden und weniger Kompetitiven, wie einst die Faschisten, unwertes Leben sehen. Im Modell der modernen Ökonomie schlummert also faschistisches Denken“ [Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück. Diogenes. 2002] – und im Sport!
[Christof Gertsch, Benjamin Steffen. Ariella Käslin – Leiden im Licht. Die wahre Geschichte einer Turnerin. Verlag NZZ. 2015]

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