Vermessene Lektürevorschläge für unsere Politiker

Der „Literaturklub“ ist eine Fernsehsendung, in welcher Kritiker Bücher besprechen. Manchmal nehmen auch Schriftsteller an der Diskussionsrunde teil. Und einmal war gar ein Bundesrat zu Gast, stellte ein Buch vor und beteiligte sich an der Diskussion mit den Kritikern. „Hat ein Bundesrat überhaupt noch Zeit zum Lesen?“, wurde er gefragt.

Es klagte ein Freund, ihn dünke, hohe Beamte und Politiker seien im Gegensatz zu früher keine belesenen Leute mehr. In der Tat weiss ich von einem Spitzenbeamten, der sich sogar damit brüstet, dass er nach dem Jus-Studium kein einziges Buch mehr gelesen habe. Würden Politiker und ihre Beamten oder Wirtschaftsführer umsichtiger und klüger entscheiden, wenn sie „belesen“ wären? [Oh, es gibt sicher belesene Vertreter dieser Berufe, ich will da die Kritik nicht übertreiben.]

Welche Lektüre würde ich denn empfehlen, und aus welchen Gründen? Hoppla, jetzt wird es aber sehr persönlich, denn ich kann ja nicht einfach alle Werke des Bildungskanons aufzählen. Mutig stelle ich mich also vor mein Büchergestell und schlage vor:

Thomas Maissen: Geschichte der Schweiz. hier + jetzt Verlag. Baden. 2010
und
Roger Sablonier: Gründungszeit ohne Eidgenossen. hier + jetzt Verlag. Baden. 2008
Die Sendereihe „Die Schweizer“ von SRF zeigt deutlich, wie wichtig es ist, das landauf landab grassierende Gemisch von Legenden und kaum bekannter Geschichte zurecht zu rücken. Diese Folklore eines bäuerlich-berglerischen Urvolks, das seine Freiheit gegen die bösen Habsburger erkämpft, beeinflusst noch heute auf unheilvolle Weise unsere Gesellschaft und die Politik unseres Landes. Maissens „Geschichte der Schweiz“ bietet einen hervorragenden Überblick bis in unsere Zeit, und Sabloniers Darstellung der Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300 ist schlicht grossartig.

Georg Kreis: Schweizer Erinnerungsorte. Verlag NZZ. Zürich 2010
In 26 kurzen Kapiteln öffnet Kreis den Speicher der Swissness. Natürlich schreibt er über das Rütli, über Tell und General Guisan, aber auch über den Bernhardiner, das Chalet, die Toblerone und das Gerber Chäsli. Wer das Buch gelesen hat, versteht die Schweiz besser.

Tony Judt: Postwar. Vintage Books. London. 2010
A History of Europe since 1945. Das Buch gibt es auch in deutscher Übersetzung, aber unsere Wirtschaftsführer lesen ja wohl problemlos englische Texte, auch wenn sie gut 800 Seiten lang sind. Judt ist Jahrgang 1948, er ist also nur wenige Jahre jünger als ich. So beschreibt er die Welt, die auch ich von Kindsbeinen an bis heute erlebt habe. Und er beschreibt sie faszinierend! Wer Europa verstehen will, lese dieses Buch, bitte schön!

Jetzt aber weg von der Geschichte und hin zu den Naturwissenschaften:

David Blatner: Extremwelten. Berlin Verlag. 2013
Blatner liefert weder naturwissenschaftliche Grundlagen noch Schulphysik oder –chemie. Er erzählt äusserst spannend vom gewaltig Grossen oder verschwindend Kleinen, von Extremen eben in Mathematik, Kosmologie, Biologie, etc. Kein Lehrgang, aber das Buch öffnet die Augen für unsere Umwelt, die wir nun auf andere, durchaus schärfere Weise wahrnehmen.

„Belesenheit“ bezieht sich aber natürlich auf die Literatur, die Belletristik. Hier greife ich völlig willkürlich vier meiner Lieblingsbücher heraus:

Jacques Chessex: Un Juif pour l’exemple. Edition Grasset.2009.
Auch dieses Buch gibt es auf Deutsch – aber Schweizer Politiker und Wirtschaftsführer werden bestimmt die Sprache unserer compatriotes gerne lesen. Der Roman spielt 1942 in Payerne. Antisemitismus und Führerbegeisterung gibt es auch in der Romandie. Hier führen sie gar zu einem Mord.

Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück. Diogenes. 2002
Das ist eine scharfe, präzise, erbarmungslose Analyse unserer modernen schweizerischen Gesellschaft. Einige Formulierungen sind durchaus erfrischend bösartig.

Robert Walser: Der Spaziergang. (Erstfassung 1917)
Der Spaziergänger, der Müssiggänger geniesst und erzählt. Nichts von Hektik, nirgends Stress. Effektivität und Effizienz, Timemanagement, Karriere, nur schon Geld verdienen: das alles ist in dieser Welt völlig fremd. Erholsam! Für den, der sich darauf einlässt.

Peter von Matt: Wörterleuchten. Carl Hanser Verlag. 2009
Dies ist eine Sammlung der schönsten und eindrücklichsten deutschen Gedichte mit jeweils einer knappen, sehr gescheiten und spannend zu lesenden Deutung von Matts. Eine herrliche Lektüre für Mussestunden, die wohl auch Politiker hie und da werden geniessen dürfen.

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