Balladen und Gedichte vorlesen

Den letzten Abend im Rahmen der Ringvorlesung „Recht und Literatur: Fechtschulen und phantastische Gärten“ bestritt Frau Limbach, die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Unter dem Titel „Recht und Poesie“ zitierte sie Conrad Ferdinand Meyers Ballade „Die Füsse im Feuer“. Denn, so sagte sie:
„Wir lesen unseren Kindern Balladen vor und nicht Gesetzestexte, um sie zu erziehen.“

Die Füsse im Feuer, das ist eine zu lange Ballade, um sie hier ganz zu zitieren.

„Wild zuckt ein Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm.“

Ein Bote des Königs verlangt Unterkunft und erhält sie. Am Herdfeuer merkt er, dass er vor Jahren bereits hier war und die Frau des Burgherrn auf der Suche nach Hugenotten gefoltert und getötet hat. Vor lauter Angst, der Burgherr werde ihn nun umbringen, kann er kaum schlafen. Am Morgen wird er geweckt:
„Vor seinem Lager steht des Schlosses Herr – ergraut,
Dem gestern dunkelbraun sich noch gekraust das Haar.“

Der Reiter, der Bote des Königs, hat also überlebt und sagt beim Abschied:
„Ihr seid ein kluger Mann und voll Besonnenheit
Und wisst, dass ich dem grössten König eigen bin.“

Darauf der Schlossherr:
„Du sagst’s! Dem grössten König eigen! Heut ward
Sein Dienst mir schwer … Gemordet hast du teuflisch mir
mein Weib! Und lebst! … Mein ist die Rache, redet Gott!“

Lesen wir unseren Kindern und Enkeln Balladen vor?
„Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
‚Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!’“

Oder Gedichte wie das folgende?

wenn
e lawine
vo zärtlichkeit
für is z’begrabe
über is abe
geit
schtirben i
gärn e chly
wett i
nid grettet sy

Für einmal ein bisschen Politik

Im April hatten wir die Ausstellung Swissness im Berner Käfigturm, einem ehemaligen Gefängnis, besucht. Swissness: Ist auch Schweiz drin, wenn Schweiz drauf steht? Seitdem sind wir auf den Newsletter des Käfigturms abonniert. Darin fanden wir den Hinweis auf eine Vortragsreihe „Freiheit und Frieden – 20 Jahre Deutsche Einheit“. Bern ist nur noch knappe zwei Stunden Bahnfahrt vom Eschberg entfernt. Also fuhr ich am 1. November nach Bern. Der Vortrag musste wegen des grossen Andrangs vom Käfigturm an die Uni verlegt werden. Es sprach Joachim Gauck über „Zwischen Furcht und Neigung. Die Deutschen und die Freiheit.“ Andreas Schilter, Leiter des Politforums des Bundes, führte den Referenten ein, der vor wenigen Monaten in der Wahl zum Deutschen Bundespräsidenten knapp unterlegen war. Schade, denke ich nun nach dem Referat: Dieser Ossi hätte Deutschland gut getan. Er wirkte ausserordentlich sympathisch, war ehedem evangelischer Pfarrer in der DDR gewesen – den Pfarrer merkte man ihm gegen den Schluss seines Referates deutlich an – und hatte von Weizsäcker den Auftrag erhalten, die Stasiakten aufzuarbeiten, was er zehn Jahre lang getan hat. Aus dem Referat:

Wir im Osten haben Jahre und Jahre von der Freiheit geträumt und sie idealisiert. Und als wir sie dann hatten, merkten viele, dass mit Freiheit auch Verantwortung verbunden ist. Es ist eben anstrengend, frei zu sein. Friedrich Schiller: Die schönsten Träume von Freiheit werden im Kerker geträumt.

Die Ratio hat eine fatale Neigung zu Sicherheit, weshalb denn die Anpassung an ein totalitäres System gar nicht so seltsam ist, sondern eigentlich der logische Normalfall.

Wir lebten Jahrzehnte in der DDR in einem absolutistischen Staat: Knie nieder, und du wirst erhoben werden.

Gauck’s Vater sagte, wie Viele heutzutage: Es war aber nicht alles so schlecht. Was war denn nicht so schlecht, fragt der Sohn und widerlegt den Vater Punkt für Punkt, was dieser zähneknirschend zugestehen muss: doch, es war schlecht! Gauck’s Vater war im Widerstand, und doch ist er jetzt über den Sohn zornig, weil ihm dieser fünfzig Jahre seines Lebens als wertlos hinstellt. – Mein Vater pflegte mir als Knaben darzulegen, wie Offiziere und Behörden sich im Zweiten Weltkrieg verhalten hätten: Die Reichen flohen in die Innerschweiz, meine Familie lebte ungeschützt in Dietikon, ich war als Kanonier im Réduit, die Züge donnerten mit Kriegsmaterial von Deutschland nach Italien durch den Gotthard, und an der Grenze wurden Juden in den Tod geschickt. Er fluchte und schimpfte! Als alter Mann sagte er: Wir haben das Vaterland verteidigt. Als der Bergier Bericht erschien, ging es meinem Vater wie Vater Gauck: Jahren seines Lebens wurde der Wert aberkannt!

Joachim Gauck: Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Siedler Verlag. 2009. 352 Seiten

Hawking behält recht

So titelte die NZZ vom 6. Oktober und berichtete, dass zum ersten Mal Wissenschafter die sogenannte Hawking-Strahlung beobachtet hätten, die von Schwarzen Löchern ausgesendet wird. Ruth Durrer, Direktorin des Instituts für theoretische Physik der Universität Genf, diskutierte am Schauspielhaus mit Lukas Bärfuss die Theorien Hawkings, Einsteins und anderer und die Frage, ob es Paralleluniversen gäbe und damit unendlich viele Werner Heller oder Stephen Hawking oder Ruth Durrer. Sie wisse, dass ernsthafte Kollegen über Paralleluniversitäten forschen würden, sie selbst sei aber sehr skeptisch. Basis für solche Vorstellungen sei die Stringtheorie, die aber nur mit 10 Dimensionen sinnvolle und für Mathematiker sehr wertvolle Ergebnisse liefere. Es sei noch niemandem gelungen, sie in unserer vierdimensionalen Welt glaubhaft anzuwenden.
Bei solchen Sachen kommt mir immer Asterix in den Sinn, der ausrief: „Die spinnen, die Römer!“ Ja, denke ich, das gilt wohl auch für theoretische Physiker. Oder für Mathematiker.

Es gibt da ein Banach-Tarski Paradox: Man nehme einen Apfel und teile ihn in fünf Teile. Setzt man diese Teile nun geschickt zusammen, so entstehen zwei Äpfel, beide von gleicher Grösse wie der erste. Man nehme eine Erbse und teile sie in eine endliche Zahl von Stücken, setze diese wiederum geschickt zusammen – und siehe da: das neue Erbsli ist so gross wie die Sonne! Nachzulesen beispielsweise in The Pea and the Sun. A Mathematical Paradox. Leonard M. Wapner. A K Peters Ltd. Massachusetts. 2005. {(x,y,z):x2 + y2 + z2 ≤1} und ∏0  ∏0 + P + ₱ und so weiter, aber lassen wir das …

Sind Physiker und Mathematiker die modernen Märchenerzähler? So ganz abwegig ist der Gedanke ja nicht: Lewis Carroll, der „Alice in Wonderland“ schrieb, war Mathematiker.
Übrigens: Wenn es wieder einmal eine klare Nacht gibt, werde ich mir die Sterne ansehen, denn eine Aussage von Ruth Durrer hat mich doch sehr beeindruckt: Der Beobachtungshorizont verkleinere sich fortwährend in unserem sich beschleunigt ausdehnenden Universum. In einigen Milliarden Jahren können wir nur noch die eigene Milchstrasse und vielleicht noch Andromeda sehen und nichts mehr weiter. Na, vielleicht falle ich ja vorher in ein Schwarzes Loch und muss diese Katastrophe nicht mehr erleben.

Von Heuschrecken, Hasen und Wölfen in Dürnten, im Wallis und im Märchen

Im hohen Gras hinter dem Haus fangen die Kinder Heuschrecken. Auch die jungen Katzen jagen sie und fressen sie – zum Entsetzen der Kinder. Eines der hübschen Häschen unserer Nachbarn ist gestorben und erhält für einige Tage ein Grab – niemandem käme es heute noch in den Sinn, Hasen oder Kaninchen, die man ein Jahr lang in einem engen Käfig aufgezogen und gefüttert hat, an Weihnachten beispielsweise zu verzehren. Im Wallis wird der Wolf geschossen, was Viele, vor allem Städter, scharf verurteilen und andere, vor allem Bauern und Jäger, begrüssen: Grosswild habe in der dicht besiedelten Schweiz nichts mehr zu suchen. Die Alpen gehören uns Menschen und nicht Wolf und Bär – also lässt man die Schafe unbewacht weiden. Nur noch im Zoo freuen wir uns am Grosswild: Da wird Knuth, der Eisbär, fast ein Medienstar. Vor Jahren, so berichtet Umberto Eco, seien Kinder im Central Park in New York ins Becken der Eisbären gesprungen, im Wasser herum geschwommen, bis es den Bären zu stören begann – er zerfleischte zwei Schwimmer*. Unsere Nutztiere werden möglichst artgerecht gehalten, aber das meiste Hornvieh wird enthornt. Das Rindvieh ist ja so harmlos, die kleinen Kälbchen sind so herzig, bis sich plötzlich Mutterkühe für ihr Kalb wehren und Stiere Wanderer angreifen. Einer meiner frühen Kollegen musste so unlängst sein Leben lassen.

Wir heutigen haben ein seltsam gespaltenes Verhältnis zu den Tieren; manchmal denke ich, zur Natur überhaupt. Und so ist denn vielleicht das Märchen vom Rotkäppchen und dem bösen Wolf aktueller denn je. Es erzählt präzise von solch gespaltener Beziehung: Der böse Wolf biedert sich mit dem kleinen Mädchen an, das er ja bereits hier ohne weiteres hätte fressen können; er macht sich lieber an die Grossmutter und frisst diese und später auch Rotkäppchen auf, was aber auf die Länge folgenlos bleibt, während die Steine im Bauch des Wolfs diesen töten – eine seltsame Geschichte; der gute Ausgang ist den Gebrüdern Grimm zu verdanken in ihrer ersten Fassung des Märchens von 1812. Ich weiss allerdings immer noch nicht, wie ich meiner Enkelin aus dem Bilderbuch den Satz: „Der Wolf verabschiedet sich, eilt zur Großmutter und frisst sie auf“ schonend erzählen soll. Und gerade hier liegt ja das Problem: Muss ich es ihr denn schonend erzählen? Oder wäre die – märchenhaft verfremdete (der Wolf kann ja sprechen!) – direkte, eben schonungslose Erzählung nicht die bessere, die wahre Geschichte?

*Umberto Eco: Wie man über Tiere spricht. In Sämtliche Glossen und Parodien. Carl Hanser Verlag. 2001.
Die Glosse ist absolut lesenswert, wie fast alle übrigen auch!

Ein sonniger Sommersonntagnachmittag

Am Sonntag spazierten wir wieder einmal in Zürichs Frauenstrassenquartier. Es gibt da nämlich eine Agnes-, eine Berta-, Elsa-, Erna-, Gertrud-, Hilda-, Ida-, und Martastrasse. Und einen Idaplatz. Das ist einer der schönsten der ganzen Stadt: Ruhig, mit gemütlichen Beizchen gesäumt und voller alter, schöner Bäume. Der Platz ist nicht zu gross und nicht zu klein, gerade richtig, um bei einem Glas Bier oder einem wirklich kalten Eiskaffee den Kindern und Erwachsenen, den Velofahrern und Sonntagsspaziergängern zuzusehen und ein bisschen mitzuhören, worüber die Menschen so tratschen und plaudern. Ein friedlicher, sonniger, angenehm warmer, nicht zu heisser Sonntagnachmittag.
Andernorts in Stadt und Kanton Zürich ging es weniger gemütlich zu: Da schwammen, radelten und rannten eisenharte Frauen und Männer und kämpften gnadenlos um jede Sekunde – wehe der alten Frau, die da im Wege stand. Die Siegerportraits fanden sich anderntags gross auf der Sportseite, die Meldung vom schweren Unfall der über achtzig jährigen Frau ganz klein bei den vermischten Meldungen.
Vor vielen Jahren hatte sich an der Bertastrasse der Bruder meines welschen Freundes erschossen. Der Freund spricht zwar deutsch, aber er war doch froh, dass ich ihn zur Polizei und auf die zürcherischen Ämter begleitete. Damals wirkte das Quartier um den Idaplatz eher etwas herunter gekommen. Jetzt leuchten die renovierten Hausfassaden im Sonnenlicht, die Balkone sind geschmückt, und die Menschen auf der Strasse wirken froh und zufrieden. – Aber man sieht an einem sonnigen Sommersonntag bloss die Fassaden.

Grasen, Pfeife rauchen und alte Kinofilme

Wer erinnert sich noch an die Filme von Jacques Tati, diesem Franzosen, der in seinen Filmen ein scharfes und kritisches Auge auf die Modernisierung und Technologisierung der Welt nach 1950 geworfen hatte? In „Mon Oncle“ und „Les vacances de Monsieur Hulot“ agiert der Pfeife rauchende Held mit herrlichem Ungeschick in der neu automatisierten Welt. Das automatische Garagentor zum Beispiel schliesst die aus den Ferien kommende Familie im Auto in der Garage ein, weil der Hund voll Wiedersehensfreude mit dem hoch gestellten, wedelnden Schwanz mittels Sensor das Garagentor von aussen wieder schliesst! Die Familie schimpft aus dem Auto, der Hund zieht den Schwanz ein und verkriecht sich – die Familie bleibt eingeschlossen!
Mon Oncle, der die Familie seiner Schwester im neu erbauten Eigenheim besucht, wird angefeuert durch den Rhythmus der im Garten verlegten Platten – die beim Betreten Springbrunnen empor schiessen lassen. Im selben Rhythmus beginnt er, die Reben an der Garagenwand zu schneiden – weil die sich halt an keine Geometrie halten. Es gilt, ihnen Ästhetik einzuhauchen, und so schneidet der Onkel und schneidet und schneidet, bis …
Mir ist diese Figur Jacques Tatis ausserordentlich sympathisch. Auch ich habe ein halbes Leben lang Pfeife geraucht, auch ich betrachte Automatisierung und Roboterisierung fasziniert aber mit gelegentlicher Skepsis. So greife ich denn hin und wieder aus lauter Nostalgie und in Erinnerung an meinen Grossvater zur Sense anstatt dass ich den Rasenmäher starte. Nicht der Umwelt, sondern meinem Gemüt zu Liebe. Und wie Tati mähe ich so Schritt für Schritt und schwungvoll und selbstvergessen vor mich hin, begeisternd beobachtend, wie das Gras abliegt – und erwische den mittleren Stamm meiner jungen Wildrebe an der Garagenaufgangsmauer! Oh, mon Oncle, was hast du mir da vorgemacht! Schau dir nun diese Betonwand an!
Klar – die Natur wird es in einigen Jahren richten. Vielleicht, dass ich mir dann wieder einmal eine Pfeife anzünde.

Eschberg – Eschenberg

In Winterthur steht der Eschenberg, grösser und imposanter als unser Eschberg, von viel Wald umgeben, ein Paradies für Naturfreunde, für Wanderer und Jogger. Beim Bruderholz auf dem Eschenberg gibt es ausser einem Kinderspielplatz mit Restaurant einen Tierpark mit Wildschweinen, mit Rothirschen, mit Mufflons und Wisente. Während uns im Teich die Tafelenten und die Mandarinenten in ihrer Pracht bekannt vorkamen, fragten wir uns, was denn ums Himmels Willen Mufflons wären oder eben Wisente.

Der Wisent oder der Europäische Bison (Bison bonasus) ist eine europäische Wildrindart. Wisente kamen noch bis in das frühe Mittelalter in den Urwäldern von West-, Zentral- und Südosteuropa vor. (Und jetzt also auf dem Eschberg? Pardon: Eschenberg, wie das?) Nach Anstrengungen seitens Zoos und Privatpersonen, die Art zu erhalten, konnten die ersten freilebenden Wisentherden 1952 im Gebiet des heutigen Nationalparks Białowieża an der polnisch-weißrussischen Grenze wieder ausgewildert werden. (WIKIPEDIA) Von da dürften die ersten Tiere dann direkt in unseren Kanton eingewandert sein. Nein?

Als Mufflon (Ovis orientalis orientalis-Gruppe) werden mehrere Unterarten des Wildschafs zusammengefasst. Der Mufflon gilt als Vorfahr des Hausschafs. (WIKIPEDIA) Die Hörner dieser Tiere sind imposant; stünden sie auf Felsen im Bündnerland, wir hielten sie für Steinböcke – ja, ich weiss, Steinböcke sind Ziegen und keine Schafe.
Wer sich für Wisente oder Mufflons oder Wildschweine interessiert – oder für Goldammern oder Buchfinken – der statte dem Eschenberg ob Winterthur einen Besuch ab, weil: Ich habe vergessen, einen Fotoapparat mitzunehmen.

Übrigens: Vom Balkon aus sah ich letzte Woche drei Rehe vom Eschberg hinunter zum Berenbach flüchten. Vor einem Mufflon oder einem Wisent?

Schweizer Geschichte

Der Schriftsteller Lukas Bärfuss befragt den Historiker Jakob Tanner unter dem Titel „Weisse Flecken“ – also Leerstellen auf einer Landkarte, nicht entdecktes Land, Unbekanntes – zur Schweizer Geschichte. Tanner verteidigt die von Roger Sablonier, ebenfalls einem Geschichtsprofessor der gleichen Universität Zürich, heftig angegriffene neue Dauerausstellung im Landesmuseum. Aber er lobt Sabloniers Buch „Gründungszeit ohne Eidgenossen“. Eine deutsche Zuhörerin meldet, dass keiner ihrer Schweizer Bekannten auch nur die geringste Ahnung von Schweizer Geschichte hätte.
Und da überlegte ich, was ich als Grossvater denn meinen Enkeln aus der Schweizer Geschichte erzählen soll. Und wollte das den Professor Tanner fragen, aber bis ich mir die Frage zurecht gelegt hatte, war die Veranstaltung vorbei. Applaus. Applaus.

Was für Geschichten werde ich nun versuchen, meinen Enkelkindern zu erzählen – vorausgesetzt, sie hören mir überhaupt zu?
Ich glaube, ich beginne in ein paar Jahren mit dem Bahndamm hinter unserer Siedlung. Auf dem Spielplatz sieht man: das ist ein Damm. Und man kann sich vorstellen, dass da einst eine Dampflokomotive vorbei dampfte. Aus dem Küchenfenster sieht man den alten Bahnhof Dürnten und von dort aus, weiter Hang aufwärts, den kleinen Viadukt, der noch immer in der Landschaft steht.
Wie wir dann mit der Dampfbahn von Hinwil nach Bauma fahren, vielleicht in Neuthal aussteigen und auf die Fabrikgebäude hinunter sehen, in denen heute ein Museum sich befindet, erzähle ich von Guyer Zeller, vom Bahnfieber seiner Zeit und wie es kam, dass er eine Bahn aus dem Tösstal an den Zürichsee baute. Da muss ich auch von der Heimarbeit in den niedrigen Flarzhäusern berichten, vom Transport der Textilballen zu Fuss zunächst auf die Schiffe am See. Und dann von der Textilindustrie, vom Ustertag, von der Textilmaschinenindustrie … Und nochmals von Guyer Zeller, der für die Arbeiter Kosthäuser und Wanderwege bauen liess. Irgendwann fahren wir vielleicht auch einmal auf die Jungfrau. Wer hat diese Bahn bauen lassen?

Einverstanden: Mit der Gründung der Eidgenossenschaft hat das nichts zu tun. Aber „Geschichte“ ist es! Wenn es denn die uralte Zeit sein muss, gehen wir in die Kirche Rüti und sehen uns die Grabplatten der in der Schlacht von Näfels 1388 gefallenen Ritter an. Das waren Toggenburger, Leute aus dem oberen Zürichseegebiet, die da von den Glarnern besiegt wurden. Wir hier feiern quasi unsere Feinde von damals!

Das Buch von Sablonier habe ich dann gelesen und darin gefunden: „Nicht umsonst waren die mythischen Vorfahren zu allen Zeiten Gegenstand einer fruchtbaren historischen Imagination … Man denke an den Denkmalrecken Tell und an die kluge Stauffacherin, Personen, die in allen Einzelheiten, …, schlicht erfunden sind.“
Auch die Geschichten von Tell und der Stauffacherin werde ich erzählen, denn die erfundenen Geschichten sind oft die schönsten! Sehen Sie sich dieses Zitat von Mark Twain an. Es flimmerte im Schweizer Pavillon von Peter Zumthor als Projektion an einer Holzbeige: „And the first of them all – the very first, earliest bannerbearer of human freedom in this world – was not a man, but a woman – Stauffacher’s wife.“

Literatur:
Roger Sablonier. Gründungszeit ohne Eidgenossen. Verlag hier+jetzt. 2008
Klangkörperbuch. Lexikon zum Schweizer Pavillon an der Expo 2000 in Hannover. Birkhäuser. Basel
Link:
www.dvzo.ch

Ännet em Berebach

Im Text „Nein, nichts Politisches“ fragte ich mich, was wohl jenseits des Berenbachs gebaut würde. Ein Nachbar klärte mich auf, schickte mir untenstehenden Plan und hoffte für mich, ich würde anderswo doch noch in den Genuss von Gülleduft kommen. Herzlichen Dank, verehrter Nachbar. Auf dem Plan unten links die Siedlung im Eschberg, dann von oben links nach unten rechts der Berenbach und daran anschliessend farbig die geplante neue Überbauung zwischen Berenbach und dem Anwesen Roth. Noch unverplant die Wiese „Zil“. Wie lange noch?
(Bitte klicken Sie auf den Plan.)
plan1

Ja nun, wir sind ja keine Einsiedler und freuen uns deshalb auf die neuen Nachbarn. Weniger freuen werden sich Katzen und Vögel, je nachdem, ob entlang des Baches einige Gebüsche überleben werden oder nicht.

Nein, nichts Politisches!

Politisches oder gesellschaftlich Kritisches habe ich auf diesen Seiten eigentlich nie formuliert. Sie stehen ja auch unter dem Titel „Vermischtes“, was eine Kategorie in unseren Zeitungen ist, wo Seltsames, Merkwürdiges, Erstaunliches, aber eben nicht Politisches erzählt wird.
Eine Ausnahme machte vielleicht das Textchen mit den Bemerkungen zur Toleranzrede des Wolfram von Eschenbach aus dem „Willehalm“, wo er sich für die Verständigung zwischen Arabern und Europäern einsetzte. Ich schloss mit dem Satz: „Ende November ist wieder eine eidgenössische Volksabstimmung“. Jene über die Minarette. Deren Bau ist nun verboten. Was ich, wie wohl in meinem September-Text deutlich geworden ist, sehr bedaure.
Das Polit-Theater um das Bankgeheimnis wäre ja wiederum eine Möglichkeit, hier in das allgemeine Bundesrats-Bashing einzustimmen. Und die Wirtschafts- und Finanzkrise wäre die Gelegenheit, einen Kästner zu zitieren:

AUF EINER KLEINEN BANK VOR EINER GROSSEN BANK

Uns erfreut das blosse Sparen.
Geld persönlich macht nicht froh.
Regelmässig nach paar Jahren
Klaut ihr’s uns ja sowieso.
Nehmt denn hin, was wir ersparten!
Und verludert’s dann und wann!
Und erfindet noch paar Arten,
wie man pleite gehen kann!

Erich Kästner. Gesang zwischen den Stühlen (1932).
Darin findet sich auch:

Was auch immer geschieht:
Nie dürft ihr so tief sinken,
von dem Kakao, durch den man euch zieht,
auch noch zu trinken.

Nein, weder grosse Politik noch harte Gesellschaftskritik in diesen Zeilen, nur Vermischtes, Verschiedenes. Also zum Beispiel: Wie wird wohl die grosse Wiese neben unserer Siedlung überbaut? Mit Einfamilienhäusern oder mit grossen, hohen Häuserblocks? Und wann geht die Bauerei wohl los? Könnte man die Wiese nicht Wiese sein lassen? Der Duft der „Gülle“ wird uns fehlen!